Die Lärche werden
An einer belebten Straße am Stadtrand von Brixen, hinter unscheinbaren, hohen Mauern hat Othmar Auer ein kleines, grünes Paradies erschaffen: eine Bonsai-Gärtnerei. Schilder oder eine Hinweistafel sucht man vergeblich. Zufällig verirrt sich niemand hierher. Bonsai-Liebhaber und Kennerinnen kommen teilweise von weit her, um sich hier mit speziellen Werkzeugen und neuen Pflanzen einzudecken, um nach Rat zu fragen oder um bei einem der zahlreichen Kurse ihr Wissen und Können im Umgang mit den kostbaren Bäumen auf den neuesten Stand zu bringen. Othmar Auer sitzt im lichtdurchfluteten Seminarraum aus Glas und Beton und schaut bedächtig hinaus in einen kleinen Garten mit Zierahorn und Bambus. „Eigentlich ist meine Frau Schuld“, sagt er und lächelt verschmitzt. Zur Geburt des ersten Kindes wollte das Paar einen Baum pflanzen. Doch was, wenn in einigen Jahren ein Umzug ansteht? So kamen sie zu einem Baum in der Schale und als zu Weihnachten ein Bonsai-Buch unter dem Christbaum lag, war der Grundstein für sein heutiges Unternehmen gelegt. Der Mechaniker las sich ein, besuchte Kurse und setzte sich immer mehr mit der Kunst der Bonsais auseinander. Er reiste ein erstes Mal nach Japan und in den Folgejahren jeden Winter für einen Monat zu seinem Meister in Fukushima.
In Brixen fand Othmar Auer Gleichgesinnte und gründete einen Bonsai-Club. Mit den Jahren wurde aus dem Hobby ein Nebenberuf und als immer mehr Menschen auf ihn zugingen und Bäume kaufen oder sich weiterbilden wollten, traf er eine Entscheidung. „Das Leben ist zu kurz und ich wollte nicht mit 60 irgendwann bereuen, etwas nicht gemacht zu haben“, sagt er heute. Er wusste irgendwann: „Das ist meine Berufung!“ Sein Entschluss, den erfolgreichen Familienbetrieb zu schließen, sorgte für gespaltene Reaktionen. Trotz enttäuschter Stammkund*innen und verwunderter Kollegen aus der Szene verwirklichte Othmar Auer auf einem Grundstück in der Nähe von Brixen ein neues Wohnhaus f ür seine Familie und die Bonsai-Gärtnerei, die er heute mit seiner Frau und drei Angestellten betreibt.
Das japanische Wort Bonsai bedeutet so viel wie „Baum in der Schale“. Im Schriftzeichen ist aber auch das Zeichen für die Schere enthalten. Denn was viele Menschen nicht wissen: Bonsais sind keine speziellen Baumarten. Ob ein winziger Samen zu einem Bonsai oder einem stattlichen Parkbaum heranwächst, darüber entscheidet ein Mensch. Und um einen Bonsai zu gestalten, muss dieser Mensch einige Fähigkeiten mit sich bringen. „Das wichtigste ist Geduld“, sagt Othmar Auer. Wer mit einer kleinen Pflanze beginnt, müsse mindestens zehn Jahre warten, bis ein junger Bonsai daraus geworden ist. Weiters brauche es Demut und die Fähigkeit, loszulassen. „Wenn ich einen Ast abschneide, der so lange gewachsen ist, tut das weh, aber wenn ich die Qualität steigern will, muss ich ihn loslassen.“ Das sei auch eine Art Training im Hinblick auf die eigene Endlichkeit: „Irgendwann müssen wir alles loslassen.“
Auf seinen Reisen nach Japan hat Othmar Auer zwei Seiten der Bonsai-Szene kennengelernt: Auf der einen Seite ein großes Business, in dem es zwischen Ausstellungen und Versteigerungen um viel Geld geht. Händler kaufen und verkaufen im großen Stil und eine neue, zahlungskräftige Klientel aus China hat die besonderen Pflanzen als Statussymbole neu entdeckt. Einst von China nach Japan exportiert, kehren heute Bonsais und kostbare Keramikschalen für exorbitante Geldsummen wieder in ihr Ursprungsland zurück, wo das Wissen und die Zeugen der Bonsai-Kunst die Kulturrevolution nicht überstanden haben. Andererseits gibt es in Japan eine Szene, die sich noch dem traditionellem Handwerk und der Philosophie der Langsamkeit und Demut verbunden fühlt. Deren Stil ist ein völlig anderer: Oberstes gestalterisches Ziel dieser Strömung ist die Natürlichkeit und die naturgetreue Formung der Bäume. Diesem Ansatz fühlt sich auch der Brixner Gärtner verbunden. „Verkäufer bin ich kein so guter“, sagt er und lacht. Hin und wieder kommt es vor, dass er Bäume nicht herausrückt. Wenn er etwa das Gefühl hat, dass jemand einen Baum nur kaufen will, weil er es sich leisten kann: „Wenn ich jahrzehntelang eine Pflanze hege und pflege, gebe ich sie nur in gute Hände.“ So direkt sagt er das den Interessenten natürlich nicht. Der Baum ist dann eben reserviert, gehört einem Kunden oder der Frau.
Hinter der Holzwand, die Zierahorn und Bambus umrahmt, stehen in Reih und Glied auf länglichen Tischen dutzende Bonsai-Bäume. Einige davon sind weit über hundert Jahre alt: Laub- und Nadelbäume, kleinere und größere, manche sind mit Bändern fixiert, aus anderen hängen Stecklinge, ein besonders prachtvolles Exemplar wurde mit kleinen Düngersäckchen belegt, die an Teebeutel erinnern. „Den machen wir fit für die Ausstellung“, sagt Othmar Auer und geht zwischen den Tischen hindurch in Richtung Glashaus, wo zwei seiner jungen Mitarbeiter konzentriert an Bäumen zupfen und feilen, die sie vor sich auf kleinen Tischen platziert haben. Ausgebreitet darauf liegen verschiedene Werkzeuge. Die Szene erinnert an einen Friseursalon. In der Bosai-Gestaltung bleibt nichts dem Zufall überlassen, jedes Detail ist gewollt und wird künstlich herbeigeführt. Bis zu einem bestimmten Punkt. Denn: „Ich muss die Pflanze kennen und wissen, was ihre Gute Bonsai-Gärtner*innen vergleicht Othmar Auer mit einem Zehnkämpfer, der viele Disziplinen beherrschen muss: Samen vermehren, Stecklinge machen, Aufpfropfen, Äste und Stämme biegen, Wässern, Düngen, Laub- und Nadelbäume richtig behandeln, Schneiden, Drahten, und bei Ausstellungen die Pflanze samt Schale und Beipflanzen inszenieren. Die größte Herausforderung sei es, einen Bonsai so zu gestalten, dass der Betrachter sofort erkennt, um welchen Baum es sich handelt. Dazu müsse der Gärtner den Charakter der Pflanze einfangen und in die Schale bringen. „Nur wenn mir das gelingt, bin ich ein wahrer Meister“, sagt Auer. Und das habe sehr viel mit Auffassungsgabe zu tun. Er macht ein Beispiel: Jemand, der in den Bergen lebt und viel dort unterwegs ist, hat eine andere Herangehensweise. Er nimmt etwa die Gestalt alter knorriger Lärchen intensiver auf – auch unbewusst – als jemand, der in einer Stadt in Nordeuropa lebt. „Ich muss selbst die Lärche werden, um sie zu formen“, erklärt er.
Othmar Auer blinzelt in der Herbstsonne, aus seinen Augen strahlt Ruhe. Er hat Zeit. Jedem seiner Sätze geht ein kurzer Moment des Nachdenkens voraus. „Jemand hat einmal zu mir gesagt: `Ihr Bonsaianer tut so, als würdet ihr 500 Jahre alt werden`“, erzählt er. Dabei beobachte er genau das Gegenteil: Bonsai-Liebhaber*innen seien sich ihrer eigenen Endlichkeit mehr bewusst als andere. „Zu wissen, dass der Baum mich überleben wird, das macht etwas mit mir“, sagt Auer. Und das sei wiederum Teil der Philosophie. Einige ältere Kunden, die es körperlich nicht mehr schaffen, haben ihre Bäume bereits bei ihm abgegeben, in gute Hände. Es sei besser, vorauszudenken, als einen Bonsai uninteressierten oder überforderten Erben zu hinterlassen. Denn für manche Sorten genügen drei Monate, um sie zu ruinieren. Wenn ein Bonsai einmal aus der Form gewachsen ist, sind schnell 30, 40 Jahre Arbeit umsonst gewesen. „Ich muss auch sehen, wo meine Bäume einmal hingehen“, sagt Othmar Auer. Darüber macht er sich schon Gedanken. Er weiß: Eines Tages wird er seine Bonsais loslassen.
Unterwegs zum Ausgang durchquert der Bonsai-Gärtner den kleinen Garten mit dem Zierahorn. Einer seiner Zweige hängt tief in den Weg hinein. „Das ist der Demuts-Ast“, sagt Auer und wirft einen schelmischen Blick zurück, verneigt sich vor dem Ast und bückt sich etwas umständlich darunter hinweg.
Fotos: Georg Hofer