Vom Berggipfel über die Stadt nachdenken
Wie sonst durchhalten, als in diesen schwermütigen Zeiten der Pandemie die Natur aufsuchen? Die Stille genießen, fernab von Verordnungen und Menschengedränge. Womit sonst die oft so leere Freizeit gestalten, als durch tief verschneite Landschaften zu waten. Zumindest lässt sich für uns Südtiroler, in unserem wunderschönen Alpenland, die Entschleunigung und Naturnähe verspüren, von denen Touristen jedes Jahr so schwärmen. Gesegnet muss man sich fühlen, hier zu leben.
Endlich das Gipfelkreuz erblickt, nur noch wenige Schritte, froh, den mühsamen Aufstieg geschafft zu haben. Angekommen. Erleichterung ist zu spüren und gleich ringsum geschaut, bietet sich eine wunderschöne Bergkulisse, alles im prächtigen Weiß, dieses Jahr ganz besonders. Nach längerem Betrachten der vielen Berge, welche sich ringsum so zahlreich aneinander reihen und der Horizont so weit weg erscheint, senkt sich der Blick. Dort unten sieht man die Landeshauptstadt; so fern, fern schon seit über einem Jahr, wenn man sich nach dem städtischen Flair, einer belebten Kultur, dem Austausch mit Mitmenschen und den vielen Unterhaltungsmöglichkeiten sehnt.
Nicht nur Naturliebhaber und Genießer der Ruhe, so sind wir Menschen doch auch soziale Wesen, unser Merkmal die Kultur mit ihrer facettenreichen Erscheinung, Ausdruck menschlichen Zusammenlebens.
Seit jeher ist das Städtische Ort der Kommunikation und des Austauschs. Hier begegneten sich Menschen, handelten miteinander und kommunizierten. Kreative Gedanken trafen hier auf Zuspruch und Mittel um sie in konkrete Projekte umzusetzen. Als Ort der Reibung wurden hier Rechte gefordert, debattiert und rebelliert, so dass wir bis heute „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ errungen haben. Symbolisch für unsere Kultur, die antiken Marktplätze als Ort der Begegnung. Die griechische „Agora“ und das „Forum Romanum“.
Zurück auf dem Gipfel, frage ich mich: Wie habe ich das Städtische wahrgenommen? Was habe ich erlebt, als ich in der Stadt war? War mein Aufenthalt immer zweckgebunden mit Erledigungen oder Konsum? Gab es Orte, an denen ich Menschen kennengelernt habe?
Durch die Pandemie erfahren wir eine erzwungene Distanz zum öffentlichen Leben. Dieser Abstand hat nicht nur negative Aspekte, sondern lässt uns auch viel klarer auf das Vermisste schauen. So ähnlich wie man bei Liebesbeziehungen sagt, dass in Krisenzeiten ein Abstand gut tue. Eine Auszeit, die es uns ermöglicht, wieder träumen zu können. Fern vom routinemäßigen Alltag, über die Stadt nachgedacht, kann man sich fragen, ob die Stadtgestaltung nach unseren Wünschen vonstatten geht. Wem gehört eigentlich die Stadt? Wer darf um ihre Gestaltung mitbestimmen? Vor allem aber: Könnte Stadt mehr als bisher?
Um diese Haltung einzunehmen, muss man sich darüber im Klaren werden, dass Stadt zu allererst Lebensraum bedeutet. Von diesem Standpunkt aus kann sich jeder fragen, inwiefern Lebensqualität gesteigert werden kann. Dafür ist wichtig zu erkennen, dass das bereits Vorhandene auch allmählich entstanden ist und entwickelt wurde. Dieses ist keineswegs alternativlos und darf nicht einfach so hingenommen werden, als wäre es ein physikalisches Naturgesetz. Erst dann kann wieder Freiraum für Vorstellungen und Ideen entstehen.
In zahlreichen Städten weltweit werden immer wieder urbane Experimente durch Bürger iniziiert. So werden beispielsweise einzelne Parkplätze kurzzeitig für Kunstprojekte genutzt oder mit einfachen Sitzgarnituren besetzt, um auf die bessere Nutzung von Raum hinzuweisen; an Stelle dessen Belegung mit eigentlich nur stillstehenden Autos. Aber auch werden zeitweilig Straßen für Autos gesperrt um dafür Platz für Straßenveranstaltungen, Sportevents oder einfach nur Bewegungsfreiheit zu schaffen. Solche Experimente wurden oft nach anfänglicher Skepsis von der Bevölkerung angenommen und manche Straßen wurden somit für immer autofrei. Aber auch den Versuch zu wagen, Räume für gemischte Funktionen zu schaffen, wie beispielsweise Coworking Spaces und Werkstätten, in denen sich kreative Köpfe wie Handwerker, Künstler oder It-ler austauschen und vernetzen können da sie am selben Ort arbeiten. Schon einige Start-ups sind daraus entstanden.
Wichtig ist hierbei, dass sich Politik zwar solchen Initiativen gegenüber offen verhalten sollte, diese aber immer von der Bevölkerung ausgehen und hier ein Aufkommen politischen Interesses und Aktionismus erforderlich ist. Vor allem bei der jüngeren Generation, welche sich oft ihrer Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt fühlt und Bemühungen eh als sinnlos betrachtet. Diese sieht oft lediglich die „Flucht“ ins Ausland als einzige Möglichkeit.
Meistens erfordern solche Versuche zur Mitgestaltung keine hohen Investitionen oder stadtplanerischen Großprojekte, welche bis ins kleinste Detail geplant und abgesegnet werden. Ganz im Gegenteil, oft reicht bloß das zur Verfügung Stellen der Ressource Raum, um im Prozess zu beobachten, was daraus wird. Einfach mal Dinge probieren und wenn sie keine Früchte tragen, können sie wieder belassen werden. Die Einstellung, dass es kein Zurück gibt, bildet einen Stillstand in Entwicklung und Innovation.
Kann es sein, dass die Pandemie genug krisenhaft war, um nachhaltig unsere Werte und Präferenzen umzustrukturieren? Dies hat uns zumindest die Geschichte immer wieder gelehrt. Vor allem jetzt, wo uns der Digitalisierungsschub, wenn auch unfreiwillig, mit immenser Geschwindigkeit erwischt hat, werden Konzepte wie Homeoffice oder Onlinekauf auch nach Corona weiterbestehen. So könnte möglicherweise durch weniger Verkehr mehr Platz entstehen und Immobilien wie Bürogebäude frei werden. Wer weiß? Deshalb: Wie könnte öffentlicher Raum neu gestaltet werden, da wir nicht drumherum kommen, Stadt neu zu denken? Aber dazu mehr im zweiten Teil.