Culture | Salto Afternoon

Tanz nach Eden

Bis Ende Juli performen verschiedene Tänzerinnen und Tänzer im Rahmen von Tanz Bozen den "Tanz für einen Zuschauer". Ein Selbstversuch bei "Eden selon Rachid"
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Foto: Salto.bz

Ich sitze allein im großen Saal des Stadttheaters. Es ist 18.30 Uhr, an einem heißen Mittwoch im Juli und eine maskierte Mitarbeiterin – bedingt durch Corona-Vorsichtsmaßnahmen – hat mich kurz vorher zu meinem für die kommenden 10 Minuten lang bestimmten Sitzplatz geführt. Ein paar Sekunden lang wird es dunkel im Saal und ich verspüre (bereits am Anfang) einen Hauch von Endzeit in Erwartung meines Gegenübers.
Nachdem sich der Vorhang öffnet und die Musik in die Tanzperformance einführt, schreitet – in direkter Linie zu mir – ein Wesen behutsam ins Scheinwerferlicht. Es ist die US-Amerikanerin Annie Hanauer die mir entgegenkommt, eine einarmig geborene Tänzerin mit Prothese. Diese Tatsache irritiert mich zu Beginn und ich fixiere aus Neugierde und Mitgefühl ihre künstliche Hand. Ist sie wirklich? 

Derart nackt habe ich mich noch nie gefühlt...

„In meinen Arbeiten lade ich den Betrachter häufig dazu ein, in das für ihn Intimste einzutauchen, seine Sensibilität zu wecken, sich von der Masse zu lösen, damit er sich selbst präsent fühlt“, beschreibt der Choreograf Rachid Ouramdane seinen künstlerischen Zugang. Sein Eden ist keine imaginäre Flucht, sondern schafft das Bewusstsein „für diesen Ort, eine geteilte Zeit und das Theater“. Auch andere Eden-Tänze werden angeboten. Ich bin bei diesem gelandet. Zufall oder Bestimmung?


Mein Eintritt in den Garten Eden ist mit Schmerz verbunden, doch Hanauer gelingt es, trotz (oder wegen) der Schwere ihrer Beeinträchtigung, eine angenehme Leichtigkeit in den Saal zu tragen. Es gelingt ihr auch, die vorgegeben Bewegungsabfolgen „frei von Stress und Kummer“ herbeizutanzen, sowie diese fürwahr ungewöhnlich intime Bühnensituationen zu einer wohltuenden „Oase in einer hektischen Welt“ werden zu lassen.

Ich bin am Ende und will zurück an den Anfang.

Wie wohl der Garten Eden von Adam und Eva ausgesehen haben mag? Vielleicht so nackt wie die Bühne im Stadttheater, wo mittels einladender Bewegungen und mit blanker Einbildungskraft – Tanzschritt für Tanzschritt – ein prächtiger Garten heranwächst. Dort endlich angekommen, ist das Stück zu Ende und ich applaudiere phantasielos. Derart nackt habe ich mich beim Applaus noch nie gefühlt. Und als Annie Hanauer ein zweites Mal hervortritt, lege ich Applaus nach. Nun bin ich noch entblößter.
Im Anschluss werde ich von einer Mitarbeiterin wieder aus dem Saal geführt, in eine in das Foyer des Stadttheaters gebaute und akustisch ausgemalte Garten-Eden-Atmosphäre, inkl. Sofa. Hier könne ich mich nachträglich noch aufhalten, sagt die Mitarbeiterin. Ich versuche es. Um aber eine Art paradiesischen Eden-Zustand zu spüren, bringt mich diese Kulisse nicht weiter. Ich bin am Ende und will zurück an den Anfang. Happy (tanz)end.