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Der andere Blick auf die Welt

„andererseits“ ist das erste österreichische Onlinemagazin, das auf Inklusion setzt. Die Redaktion ist besonders: Die eine Hälfte hat eine Behinderung, die andere nicht.
Inklusion
Foto: Stefan Fürtbauer

Einerseits gibt es den klassischen Journalismus schon, wir sind andererseits

Das Medienprojekt andererseits versucht dem Journalismus das zurückzugeben, was ihm oftmals fehlt: die Perspektiven von Menschen, die er ausschließt. Die Redaktion, die es in Österreich so noch nicht gibt, setzt auf Inklusion: Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten gemeinsam an unterschiedlichen journalistischen Formaten. Es wird recherchiert, fotografiert, Texte werden verfasst, Videos geschnitten und Podcasts aufgenommen. Die Qualität bleibt nicht außen vorgelassen. Deshalb werden Workshops organisiert und redaktionelle Leitlinien eingehalten. 
 

Wie alles begann …

 

Es ist das Jahr 2020. Clara Porak, damals 22 Jahre alt, sitzt vor ihrem Computer und tippt folgenden Tweet: 

Hallo Twitter-Menschen! Ich möchte ein Projekt im Journalismus für #Inklusion beginnen. Gerne teilen, noch lieber mitmachen! Infos in leichter Sprache im Thread! #wildezeitenwildeideen.

Wilde Zeiten, allerdings: Österreich steckt wie so viele andere Länder mitten im Corona-Lockdown. Die junge Wienerin will aber genau zu diesem Zeitpunkt ein Projekt starten, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten – in manchen Bereichen bereits vorhanden, im Journalismus ein Novum
Matthias Porak, Claras Bruder, lebt mit Trisomie 21. Clara bekommt also seit ihrer Kindheit die Lebensrealitäten ihres Bruders mit und weiß von marginalisierten Situationen zu berichten. Da Clara als freie Journalistin tätig ist, schreibt sie gemeinsam mit ihrem Bruder einen journalistischen Text. Es soll aber nicht bei der Geschwister-Redaktion bleiben … 
 


Die andererseits-Redaktion kommt nach und nach zusammen. Clara Porak fragt zwei Freundinnen, Katharina Brunner und Katharina Kopshofer, ob sie mitmachen wollen, da auch sie als freie Journalistinnen tätig sind – beide sagen zu. Auch drei weitere Menschen mit intellektueller Behinderung (Sebastian Gruber, Hanna Gugler und Luise Jäger) sind von Anfang an dabei. Heute zählt das Team 25 Köpfe. Die Hälfte mit Behinderung, die andere ohne. Porak ist überzeugt: „Je unterschiedlicher die Menschen sind, die Journalismus machen, je vielfältiger die Perspektiven sind, desto vollständiger ist der Blick auf die Welt“.

In Österreich leben ca. 1,3 Millionen Menschen mit Behinderung, das einem Anteil von 15-20 %, aufgerechnet auf die Gesamtbevölkerung, entspricht. Bisher aber besteht für all jene keine Möglichkeit, sich in unabhängigen Texten oder anderen journalistischen Formaten an die Öffentlichkeit zu wenden. Ihre Perspektive wird vergessen oder durch Zweitpersonen veranschaulicht. 
 

Wie andererseits arbeitet

 

Die Redaktion arbeitet in Teams. Jeweils zu zweit kümmert man sich um einen journalistischen Bereich (Social-Media, Podcast, Grafik, Video, Text). Die jeweiligen Bereiche sind weder hierarchisch noch starr gegliedert, heißt: Jeder und jede kann mal da, mal dort mitarbeiten. „Meistens funktioniert es so, dass z. B. eine Person, die schon mehr journalistische Erfahrung hat, mit einer Person zusammenarbeitet, die eine Behinderung hat“, erklärt Katharina Brunner, Mitgründerin des Projekts. Die 27-Jährige hat Journalismus und PR an der FH Joanneum in Graz studiert und arbeitet, wie alle anderen auch, ehrenamtlich bei andererseits mit. Sie berichtet: „Es kommt immer wieder schnell so an, als wäre da die eine Person ohne Behinderung, die der anderen Person mit Behinderung etwas beibringt. Aber wir versuchen auf einer Ebene zu kommunizieren, bei der es darum geht, etwas gemeinsam zu schaffen. Wir wollen die journalistische Arbeit anders verstehen, damit sich Menschen mit Behinderung gleichberechtigt einbringen können.“ Alle zwei Wochen gibt es eine Redaktionssitzung, bei der immer die Möglichkeit besteht, online mit dabei zu sein. „Wobei wir jetzt wieder versuchen, uns offline zu treffen.“ Bei den Sitzungen treffen sich die Menschen in leer stehenden Universitätsräumen in Wien
 

Die größte Schwierigkeit? Die Tatsache, dass Menschen ohne Behinderung noch sehr viel lernen müssen. 


Schwierigkeiten kann Brunner zwei größere benennen: Einmal ist es die Tatsache, dass Menschen ohne Behinderung noch sehr viel lernen müssten: „Vor allem, wie man kommuniziert, damit es auch möglichst alle in der Redaktion verstehen“. Die zweite große Schwierigkeit stoßt auf ein Grundproblem: Menschen mit Behinderung haben keinen Zugang zu journalistischen Ausbildungsstätten – wie in so vielen anderen Berufen auch. „andererseits soll ein Ort sein, an dem Menschen mit Behinderung lernen können, Texte journalistisch zu verfassen“, so die Wienerin.   
 


Die Beeinträchtigungen der Menschen sind ganz unterschiedlich. „Viele haben eine intellektuelle Behinderung, andere wiederum nicht “, sagt Katherina Brunner, „es sind ganz unterschiedliche Menschen dabei“. Wie die Menschen auf die Redaktion aufmerksam werden, sei ganz unterschiedlich, meint Brunner: „Am Anfang war es vor allem so, dass Organisationen, die mit Menschen mit Behinderung zusammenarbeiten, schnell auf das neue Projekt aufmerksam wurden. Es war auch die klassische Mundpropaganda, die uns schnell Menschen gebracht hat“, erinnert sich die Redakteurin.
 

Es gibt kein Aufnahmeverfahren, das für alle gleich ist. Das ist auch sonst nicht die Idee von andererseits.


Es gibt kein klassisches Auswahlverfahren oder eine strikte Aufnahmeprüfung, wenn man mitmachen will. Bei einem Erstgespräch wird abgecheckt, was sich Menschen von der Redaktion erwarten. Außerdem werden die Bewerber:innen gefragt, warum sie in den Journalismus wollen und warum für sie dieses Thema von Bedeutung ist. „Das Interesse an der klassischen, journalistischen Arbeit ist wichtig und der Wille, etwas Neues zu lernen“, sagt Brunner. In der Folge können die Neulinge bei einer Redaktionssitzung dabei sein, das Team kennenlernen und gemeinsam mit einer zugewiesenen Person einen Newsletter-Text verfassen. Anschließend wird geschaut, wo die Interessen liegen und in welcher Arbeitsgruppe die Stärken des/der Jeweiligen am besten zum Vorschein kommen. Katharina Brunner stellt klar: „Es gibt kein Aufnahmeverfahren, das für alle gleich ist. Das ist auch sonst nicht die Idee von andererseits. Bei jedem Menschen soll etwas anderes gefordert und gefördert werden.“ 
 


Was es bei andererseits nicht gibt, sind Chefs bzw. Chefinnen sowie Rubriken. Da alle in der Redaktion ehrenamtlich arbeiten, entstehen die Texte je nachdem, wer wie viel Zeit hat. Das soll sich ab Herbst ändern. Das große Ziel des Projekts ist es, drei Personen fix anzustellen und die anderen im Team mit fairen Honoraren zu bezahlen. „Mit einer Crowdfunding-Kampagne, die einen Monat gedauert hat (20. April 2022 - 20. Mai 2022) haben wir 40.000 Euro gesammelt und 500 Mitglieder mit ins Boot geholt. Das war für unsere Basis und unser weiteres Schaffen sehr wichtig. Aber wir brachen da einfach mehr finanzielle Unterstützung, um z. B. redaktionelle Räume über längeren Zeitraum hinweg anmieten zu können.“ Zurzeit arbeiten alle im Homeoffice. Abgewickelt wird vieles über Telefon oder Zoom. 
 

Ein freier Wunsch geht an …

 

die Öffentlichkeit. Katharina Brunner sagt: „Als Medium haben wir eigentlich gute Sichtbarkeit errungen. Aber von der Öffentlichkeit würden wir uns mehr Sichtbarkeit wünschen. Aufmerksamkeit für die Perspektiven von Menschen mit Behinderung. Der Blick soll aber nicht immer auf die Behinderung gelenkt werden, sondern auf die Themen, die jene Menschen beschäftigen, auf das, was sie sagen und mitteilen wollen. Ja, das würden wir uns wünschen – einfach mehr Sichtbarkeit.“