Politics | Landtagswahl

„Ein Land, wo die Schizophrenie regiert“

Sie ist die italienischsprachige Spitzenkandidatin der Grünen und nimmt sich kein Blatt vor den Mund: Sabine Giunta über die Schulen, Klimaschutz und finanzielle Mittel.
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Foto: Seehauser Foto
Sabine Giunta wurde von den Grünen als italienischsprachige Spitzenkandidatin für die Landtagswahlen ausgewählt. Die Tochter von italienischen Gastarbeitern wuchs in Deutschland auf und ist heute Direktorin des italienischen Schulsprengels im historischen Stadtzentrum von Bozen.
 
salto.bz: Frau Giunta, wie würden Sie Südtirol in wenigen Sätzen beschreiben?
 
Sabine Giunta: Es ist ein Land, wo die Schizophrenie regiert. Ein Land, das eigentlich vor Reichtum strotzt, wo so vieles zusammenkommt und wo so viel Energie verwendet wird, damit es nicht zusammenkommt.
 
Sie treten die Nachfolge des Grünen und italienischsprachigen Landtagsabgeordneten Riccardo Dello Sbarba an. Wie wollen Sie an seine Arbeit anknüpfen?
 
Ich weiß nicht, ob ich an seine Arbeit anknüpfen kann, weil er ein Ausmaß an Kenntnissen und Erfahrungen mitgebracht hat, die ich bestimmt nicht habe. Wie ehrlich, ausdauernd und zäh er an die Dinge herangegangen ist, sehe ich mich aber durchaus auch im Stande.
Denn die Debatte nützt weder der italienischen noch der deutschen Sprachgruppe.
In Ihrer politischen Vergangenheit haben Sie sich als Gewerkschafterin der CGIL engagiert und sind bis jetzt der Parteipolitik ferngeblieben. Wieso haben Sie sich nun für die Grünen entschieden?
 
Ich brauche eine Umgebung, wo ich authentisch sein kann, wo es keine Machtspiele gibt, ich als Frau wahrgenommen werde und ich mich dafür einsetzen kann, was mir wichtig ist. Was ich in der medialen Berichterstattung und im Gespräch über die Grünen erfahren habe, bestätigt mir, dass sie mir das bieten können. Ich nehme sie in ihrer Sauberkeit wahr.
 
 
Sie loben ihre Arbeitsweise. Wie sieht es mit den Inhalten der Grünen aus?
 
Sie haben ein offenes Ohr für Themen, die mir wichtig sind. Die „grüne“ Welle erreicht mehrere Parteien – mehr oder weniger. Bei den anderen sieht es so aus, als hätten sie gerade eine „grüne“ Jacke angezogen.
 
Ein Trend?
 
Ja. Die Grünen hingegen sind entstanden, um sich für den Umwelt- und Klimaschutz einzusetzen. Das macht sie für mich glaubwürdig.
 
Wie beurteilen Sie die kürzlich in den Südtiroler Medien wieder aufgekommene Debatte zu italienisch- oder anderssprachigen Kindern in deutschsprachigen Schulen?
 
Das ist pure Wahlpropaganda. Das ist überhaupt kein Problem.
 
Überhaupt kein Problem sagen Sie?
 
Ich habe in dieser Schule 49 Prozent Kinder, die wenig oder kein Italienisch sprechen. Mir wäre aber nie in den Sinn gekommen, so eine Geschichte ins Rollen zu bringen, weil ich in meiner Schule die Didaktik so organisiert habe, dass sie den Bedürfnissen der Kinder entsprechen kann.
 
Aber sinkt dadurch nicht das Unterrichtsniveau der gesamten Klasse?
 
Das hängt davon ab, wie Pädagogik, Didaktik und Organisation im Unterricht gestaltet sind, damit das eben nicht zu einem Problem wird. Natürlich haben wir viel Arbeit mit diesen Kindern, das kann man nicht leugnen, das wäre ja verrückt. Aber ich glaube, dass die Schule dafür da ist, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen und den Kindern eine Chance zu geben. Es kann nicht sein, dass man das als Problem benennt und dafür einen Ausweg sucht. Ich suche einen Weg, um diese Kinder zu erreichen.
 
Wie würden Sie sich in diese vertrackte Debatte einbringen?
 
Um dem sogenannten Problem auf den Grund zu gehen, müsste der Anteil dieser Kinder in den Schulen statistisch erfasst werden. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass die Debatte vor allem Aufmerksamkeit erregen wollte und die war sofort da, weil es ein sensibles Thema ist. Das ist Manipulation. Denn die Debatte nützt weder der italienischen noch der deutschen Sprachgruppe. Wenn tatsächlich so viele italienisch- und anderssprachige Kinder deutschsprachige Schulen besuchen, wie viele Klassen müssten dann geschlossen werden, wie viele Lehrpersonen würden ihre Stelle verlieren, wenn diese Kinder kein Recht mehr hätten, dort in die Schule zu gehen?
Schulen und Bildung werden immer als Sparschwein betrachtet.
Wie stehen Sie zu der langjährigen Forderung der Grünen, mehrsprachige Schulen einzuführen?
 
Ich glaube, dass eine mehrsprachige Schule ein anderer Ansatz ist. Aber es ist keine einfache Lösung. Um eine mehrsprachige Schule einrichten zu können, braucht es einen Bildungsplan und zusätzliche finanzielle Ressourcen. Es ist daher eine gute und durchdachte Vorbereitung notwendig, um als Lösung zu funktionieren. Dafür braucht es den Willen, in eine solche Bildung zu investieren.  
 
 
Welche Vorteile hätten mehrsprachige Schulen dann?
 
Eine mehrsprachige Schule hat für alle einen Mehrwert, sie ist aber nicht die Lösung für das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen. Denn auch die mehrsprachige Schule bringt organisatorische Probleme mit sich, die man lösen muss. Es ist nicht so, dass wir jetzt einen Hasen aus der Zaubertüte herausholen, und damit ist alles geregelt. Vielmehr ist es ein Ansatz, der dem Potential gerecht wird, das entsteht, wenn Kulturen zusammentreffen. Wenn sich Menschen mit verschiedenen Sprachen treffen, entstehen mehr Ideen und mehr Kreativität, wenn man zulässt, dass sie sich gegenseitig befruchten. Wenn man ständig alles genau und pingelig trennen will, dann lässt man das einfach nicht zu. 
 
Ihr Steckenpferd sind Schule und Bildung, welche Verbesserungen braucht es in diesem Bereich?
 
Alle sagen auf der politischen Ebene, dass Schule und Bildung wichtig sind. Alle sagen, das ist ein Wert in unserer Gesellschaft. Hinterher tut man aber etwas anderes. Schulen und Bildung werden immer als Sparschwein betrachtet. Es wird uns mit der Einstellung begegnet, uns noch etwas abzuzwacken, um in unserem Bereich noch mehr einsparen zu können. Das wird bei den Lohnverhandlungen der Lehrkräfte, die seit Jahren stillstehen, bei den Verhandlungen über die Arbeitszeiten in allen Schulstufen, auch im Kindergarten, deutlich. Es fehlt außerdem eine Vision des Lehrberufes, um den Schüler*innen von heute gerecht zu werden. Die Schule hinkt immer ein bisschen hinterher.
 
Wo werden die Einsparungen sichtbar?
 
Die Einsparungen sind in vielen Bereichen sichtbar. Auch wenn die Zusammenstellung der Schulklassen in den ladinischen, deutschen und italienischen Schulsprengeln jeweils anders geregelt wird, fällt auf, dass eine Lehrperson eine Klasse mit 24 Kindern anders unterrichten muss als eine mit nur 18 Kindern. Außerdem wäre es hilfreich, wenn die Schulen besser ausgestattet werden würden, insbesondere bei der Digitalisierung, und sie flexibler über ihre zugewiesenen Ressourcen verfügen könnten. Viele Schulen haben keine Turnhalle. Diese Dinge sind für eine moderne Schule notwendig.
 
 
Zudem herrscht Personalmangel: Schulwarte und Schulwartinnen sind kostbare Ware, wenn sie erkranken, werden sie nicht ersetzt. Mitarbeiter*innen im Sekretariat fehlen immer wieder, und diese Arbeitnehmer*innen sind lebenswichtig für eine gut funktionierende Schule. Hinzu kommt, dass durch den Mangel an Lehrpersonen immer weniger Zeit für Unterricht und Projekte in der Kleingruppe bleibt, weil es immer weniger Ko-Präsenzen gibt. Auch die Anzahl an Mitarbeiter*innen für Integration für Kinder mit Beeinträchtigung ist unzureichend.
Unsere Gesellschaft ist von Eile, Wettbewerb und Einsamkeit geprägt.
Wie erklären Sie sich die mangelnde Attraktivität des Lehrberufes?
 
Alle sagen, dass es schön ist, mit Kindern zu arbeiten. Dabei stellt man sich ein Kind vor, das lieb und brav vor dir sitzt und dir aufmerksam zuhört. Diese Kinder gibt es heute fast nicht mehr. Unsere Kinder bringen große Schwierigkeiten mit sich, sei es auf der kognitiven Ebene, sei es durch ihr soziales Umfeld. Kinder erleben nicht immer die notwendige Unterstützung in den Familien, sie sind nicht in der Lage, still zu sitzen und zu tun, was man ihnen sagt. Also muss man andere Wege finden, sie zu erreichen. Natürlich bleibt es wunderschön, aber es verlangt von einer Lehrperson eine ganz andere Sensibilität, Empathie und pädagogische Grundhaltung. Es braucht Zeit und Energie. Dann bleibt wenig Zeit, die Kinder zu fragen, was sie beschäftigt, wie es ihnen geht. Die Laufbahn zum Lehrer*innen werden ist voller Hindernisse und extrem lang: Wenn die Gesellschaft diesen Beruf sowieso nicht würdigt und der Lohn nicht angemessen ist, warum soll man sich das antun?
 
Die Schule sollte den Kindern ja vor allem etwas beibringen.
 
Die Schule hat nicht nur diesen Auftrag. Die Schule ist da, um den Bürger und die Bürgerin zu bilden, Hindernisse auf dem Weg zum Bildungserfolg wegzuräumen. Man kann nicht daran denken, einen Bürger zu bilden, wenn man sich nicht um den Menschen kümmert. Das ist die erste Aufgabe der Schule. Auch weil es keinen anderen Raum gibt, der für diese Aufgabe vorgesehen ist. Wer macht das denn?
 
Im Idealfall das soziale Umfeld.
 
Durch die Berufstätigkeit der Eltern verbringen die Kinder immer weniger Zeit mit ihrem Vater oder ihrer Mutter. Wir haben sehr viele Kinder, die vielleicht zu autonom leben, weil sie auf sich selbst gestellt sind. Frauen und Männer sollen die Möglichkeit haben, sich durch die Arbeit zu verwirklichen. Aber viele Kinder wachsen dann heran, ohne bestimmte Sachen erleben zu können. Wenn ein Kind aufsteht und sich selbst das Frühstück vorbereiten muss, weil die Eltern schon weg sind, dann geht es nicht nur um die einfache Vorbereitung des Frühstücks, sondern darum, dass man die Geborgenheit und das Zusammensein nicht erlebt. Niemand fragt, wie es dir geht, und hilft dir, bei der Verarbeitung von Erlebnissen. Das wäre die Aufgabe der Erwachsenen. Viele Eltern haben deswegen Schuldgefühle und versuchen es auf ihre eigene Weise wiedergutzumachen. Unsere Gesellschaft ist von Eile, Wettbewerb und Einsamkeit geprägt. Das bleibt bei den Kindern hängen. Sie riechen das, sie atmen das ein. Und in der Schule will man dann etwas anderes von ihnen. Dass sie ruhig sind, dass sie zu sich selbst kommen, die anderen akzeptieren und im Team arbeiten können. Das ist ein Teil der Schizophrenie, von der ich zuvor gesprochen habe.
 
Was wünschen Sie sich vom Ergebnis der Landtagswahlen im kommenden Herbst für sich?
 
Ich würde mir wünschen, die Möglichkeit zu haben, im Landtag mitzureden.
 
 
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Herta Abram Fri, 04/28/2023 - 08:31

Tolles Interview!
-Eine Frau, kompetent, gebildet, klar im Verständnis, Gemeinwohlorientiert, emanzipiert, glaubwürdig, empathisch, mit Herz, Hirn und Hand, sozial eingestellt, demokratie vorlebend....

Diese Eigenschaften wären ein hoffnungsstärkendes Gegengewicht, zur im Landtag verbreiteten: Ignoranz und den rückwärtsgewandten, patriarchalen Normen- und Wertehaltungen.
Ich wünsche mir, dass Sabine Giunta im Landag mitredet!!

Fri, 04/28/2023 - 08:31 Permalink