Politics | Appell aus Armenien

Die Republik Arzach anerkennen!

Vor wenigen Tagen hat einen Südtiroler Politiker dieses Schreiben von Maria Karapetyan erreicht, einer armenischen Parlamentsabgeordneten, die Südtirol persönlich kennt.
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Maria Karapetyan ist eine armenische Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende des parlamentarischen Freundschaftsclubs Armenien-Italien. Sie weilte zu Studienzwecken öfter in Bozen und Trient und hat einen beherzten Appell speziell an Südtirol gerichtet, die bedrängten Armenier der Republik Arzach zu unterstützen. Hier der Kerntext.

„Seit dem 27. September werden die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen einschließlich Krankenhäuser, Schulen, Wohnviertel, Kirchen und Kulturzentren der Republik Arzach (Berg Karabach) seitens der Armee von Aserbaidschan mit militärischer Unterstützung der Türkei und von Kämpfern syrischer Terrormilizen unter Feuer genommen und auch mit Splitterbomben bombardiert. Es geht hier um die Fortsetzung der verbrecherischen Politik der Türkei, die mit dem Völkermord an den Armeniern des Osmanenreichs vor 105 Jahren begonnen hat. Unter diesen Umständen besteht die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu stoppen, in der Anerkennung der Republik Arzach durch die internationale Gemeinschaft. Nur so kann die Sicherheit des Volks von Arzach international garantiert werden, nur so kann bewiesen werden, dass die Welt für Freiheit, Demokratie und Frieden eintritt, gegen Tyrannei, Gewalt und Terror. (…)

Das Beispiel der Region Trentino-Südtirol inspiriert und weckt Hoffnungen auf das Zusammenleben überall auf der Erde. Was ich bei meinen Besuchen in der Region gelernt habe, ist, dass sich Italien größte Mühe gibt, um das friedliche Zusammenleben zu gewährleisten. Zunächst hat Italien sich selbst Frieden gegeben, wie auch im Art. 11 der wunderbaren italienischen Verfassung verankert. Italien hat auch in diese Region investiert und hat den beiden autonomen Provinzen Bozen und Trient Autonomie zuerkannt. Deshalb wende ich mich an euch, weil ihr über die Sensibilität verfügt, um die Lage des Volks der Republik Arzach zu begreifen.

Das Beispiel Trentino-Südtirol mit seinen beiden autonomen Provinzen ist Lichtjahre entfernt von dem, was Aserbaidschan und die Türkei dem Volk von Armenien und Arzach angetan haben. Sowohl die Republik Armenien als auch die Republik Arzach leben seit 30 Jahren unter einer Wirtschaftsblockade sowohl seitens der Türkei als auch seitens Aserbaidschans. Wir haben 30 Jahre der Bedrohung, regelmäßige Angriffe und zwei Kriege auf breiter Front gegen die Armenier hinter uns.

Doch wir stellen auch in dieser Situation keine unerfüllbaren Forderungen. Der armenische Premierminister Pashinyan hat am 17. Oktober öffentlich erklärt, dass jeder Vorschlag zur friedlichen Beilegung des Konflikts um Arzach für das armenische Volk, für Arzach und Aserbaidschan diskutiert werden müsse. Es braucht aber eine demokratische Regierung, um einen Kompromiss auszuarbeiten und zu verabschieden. Die Regierung von Aserbaidschan ist nicht demokratisch gewählt. Deshalb sind Kompromissvorschläge auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts von dieser Seite nicht zu erwarten. Somit kommt es jetzt auf die internationale Gemeinschaft an, einen Kompromiss durch Anwendung des Selbstbestimmungsrechts zu finden.

Ich lade euch ein, zusammen das Parlament und die Regierung Italiens aufzufordern, auf der Grundlage des Rechts auf Sezession als Akt der Notwehr die Republik Arzach international anzuerkennen. Nur dann kann das Recht des Volks der Republik Arzach auf Freiheit von Gewalt, Krieg und Genozid gewährleistet werden."

Gezeichnet: Maria Karapetyan, Abgeordnete zum Parlament von Armenien

Nachsatz: die Armenier in Arzach verdienen Solidarität. Wie es Frau Karapatyan in ihrem Appell unter Berufung auf das Beispiel Italien und Trentino-Südtirol andeutet, kennt unsere Region und vor allem Südtirol diese Problematik aus ihrer Geschichte. Doch der Konflikt um Arzach kann eben nicht mit Territorialautonomie innerhalb von Aserbaidschan gelöst werden. Dafür ist es zu spät. Nur die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung unter internationaler Beobachtung und eine freie demokratische Entscheidung der Bevölkerung von Arzach über den zukünftigen politischen Status des Gebiets kann den Weg zu Frieden und Sicherheit öffnen. Das fordert Frau Karapetyan von der Staatengemeinschaft, von Italien speziell, und nach dem Beispiel einiger US-Bundesstaaten könnten auch Regionen und autonome Provinzen Italiens dafür aktiv gegenüber der Regierung in Rom eintreten.

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Daniel Kofler Mon, 11/02/2020 - 02:18

[...] Italien [gibt sich] größte Mühe [...], um das friedliche Zusammenleben zu gewährleisten. Zunächst hat Italien sich selbst Frieden gegeben, wie auch im Art. 11 der wunderbaren italienischen Verfassung verankert. Italien hat auch in diese Region investiert und hat den beiden autonomen Provinzen Bozen und Trient Autonomie zuerkannt. Deshalb wende ich mich an euch, weil ihr über die Sensibilität verfügt, um die Lage des Volks der Republik Arzach zu begreifen."

Wer so daher redet, hat Südtirol und seine Geschichte nicht verstanden, und sollte sich diese Anbiederung sparen. Dass Rom lieber heute als morgen die Autonomie streichen würde, dass jeder Milimeter Autonomie in zähen Verhandlungen abgerungen werden musste, dass auch im republikanischen Italien die nationalistische Hand noch auf Jahrzehnte durchgegriffen hat, und dass italienische Parteien der gesamten politischen Spektrums noch immer geschlossen zusammenhalten, wenn es gilt, die eigene Position gegen die "crucchi" durchzusetzen, davon hat die Dame wohl noch nie etwas gehört. Ist ja nicht schlimm, aber wenn man keine Ahnung von einer Sache hat, sollte man doch einfach den Mund halten.

Wir Südtiroler könnten höchstens deswegen die Lage der Bevölkerung Arzachs verstehen, weil wir genau wissen, was danach kommen wird: wenn nicht Vertreibung, dann zumindest Majorisierung durch Aserbaidschaner, nach der Rückeroberung von der Regierung. Beispiel für die Arzacher ist also nicht Südtirol heute, sondern Italien früher. Auch hat sich Südtirol nicht gewehrt, sondern war für Italien recht einfach zu handhaben; liegt wohl an der Untertanenmentalität, die man noch aus dem Kaiserreich mitgenommen hatte (also ganz anders als im Kaukasus, wo ein starker Staat ein relatives Novum ist). WENN Südtirol ein Beispiel für Arzach abgeben könnte, dann müssten sie den Kopf unten halten, alles ertragen, fünfzig Jahre warten, Autonomie aushandeln. Aber das ist glaube ich nicht das, auf das die Frau hinauswill. Also bastelt man sich die Fakten eben selbst zurecht.

Und ganz am Rande: wer Gespräche mit der aserbaidschanischen Regierung deswegen ablehnt, weil diese "nicht demokratisch legitimiert sei", der wird gar nichts erreichen. Denn die Aserbaidschaner werden kaum ihre ganze Politik auf den Kopf stellen, nur weil eine Hinterbänklerin aus Armenien das so meint. So sehr ich auch Sympathien für die Republik Arzach hege, und so sehr ich denen ein Referendum wünsche, sollte man sich ein bisschen in Demut üben und die Sache intelligent angehen. Also entweder gscheid kämpfen oder gscheid verhandeln, aber nicht verlangen, der Gegner müsse zuerst demokratisch werden, damit man beginnen kann, zu verhandeln.

Es ist klar, dass eine Parlamentsabgeordnete im Krieg Partei für die eigene Sache ergreifen will. Aber etwas neutraler und weniger einseitig hätte sie es schon ausdrücken können, schon rein aus Glaubwürdigkeitsgründen.

Mon, 11/02/2020 - 02:18 Permalink
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Thomas Benedikter Mon, 11/02/2020 - 21:09

Sie haben recht, Daniel Kofler, die Abgeordnete Karapetyan will nicht auf eine sich über 46 Jahre hinziehende Autonomielösung (1946 Pariser Vertrag, 1992 Streitbeilegungserklärung) hinaus, sondern auf die Anerkennung der Republik Arzach. Diese ist aufgrund mehrerer Volksabstimmungen (99% JA) der Bevölkerung von Berg Karabach entstanden. Diesem - unter kulturellem, ethnischem und geschichtlichem Aspekt gesehen - Teil von Armenien ist seit 100 Jahre jede völkerrechtlich legale Selbstbestimmung verweigert worden. Nun ist es allerhöchste Zeit dafür, wenn man dort dauerhaft für Frieden, Stabilität und Gerechtigkeit sorgen will. Zur Ursache des Konflikts vgl. meinen Beitrag auf www.brennerbasisdemokratie.eu
Der ganze erste Teil des Briefs von Karapetyan ist ein "captatio benevolentiae", um die Südtiroler Abgeordneten zur Solidarität zu bewegen. Doch geht es hier nicht um den Export eines Autonomiemodells wie so oft, sondern um einen klaren Ausdruck der Solidarität mit den Armeniern von Arzach, die endlich über sich bestimmen wollen. Ich bin gespannt, ob der Landtag in diesen Zeiten überhaupt ein solches Thema aufgreift.

Mon, 11/02/2020 - 21:09 Permalink