Society | gastbeitrag

Blutvergießen nach dem Krieg

Gedenktag für die Opfer des Meraner Massakers.
Meran
Foto: Othmar Seehauser

Meran, 30. April 1945. Ein paar hundert Partisanen und Zivilisten, weitgehend italienischer Muttersprache, ziehen um das Stadtzentrum, um die Befreiung von der nationalsozialistischen Besatzung zu zelebrieren. Jeden Tag wird klarer: Der Krieg ist am Ende. Mussolini, der in Meran untertauchen wollte, ist seit zwei Tagen tot. In Berlin wird sich Hitler noch am selben Tag das Leben nehmen. Die Wehrmacht ist in ganz Norditalien auf dem Rückzug und rund 1000 deutsche Soldaten halten sich in der Lazarettstadt auf. Die Meraner Partisanen schwingen entlang der heutigen Freiheitsstraße die Tricolore und sind unbewaffnet, weil sie eventuelle Missverständnisse mit Wehrmachtsoldaten unbedingt meiden müssen. Doch plötzlich öffnen deutsche SS-Soldaten aus den Fenstern zwei naheliegender Gebäude das Feuer auf die Menge. Mindestens acht Personen sterben, darunter der achtjährige Paolo Castagna. 

Der 25. April hierzulande als „Giornata della Liberazione“. Allerdings kann im Frühjahr 1945 bis in die ersten Maitage hinein von Frieden noch nicht die Rede sein

Fünf Tage zuvor proklamierte das italienische Befreiungskomitee (CLN) die Befreiung Italiens. Seitdem gilt der 25. April hierzulande als „Giornata della Liberazione“. Allerdings kann im Frühjahr 1945 bis in die ersten Maitage hinein von Frieden noch nicht die Rede sein, kämpfen bewaffnete Partisanen doch bei Ponti sul Mincio in der Nähe von Mantua gegen NS-Truppen. Selbst in Bozen sterben am 3. Mai noch 36 Partisanen und mindestens fünf Wehrmachtsoldaten bei blutigen Straßenkämpfen. Anders ist die Lage in Meran: Angesichts der sich anscheinend entspannenden Situation genehmigt der Vorsitzende des Südtiroler CLN, Bruno de Angelis, mit Zustimmung der vor Ort stationierten NS-Autoritäten die Veranstaltung, unter der Prämisse, dass sie unbewaffnet verläuft. 



Deutschsprachige Meraner/innen beobachten den Umzug mit großer Skepsis. Sie verbinden den Anblick grün-weiß-roter Fahnen eher mit den traumatischen und repressiven Erfahrungen des faschistischen „Ventennios“, als mit einer Befreiung. Auch in der Südtiroler Resistenza bildet sich bereits 1939 eine eigene, vom CLN unabhängige Gruppe, die sowohl antinazistisch wie antiitalienisch orientiert ist und vorwiegend einen Wiederanschluss Südtirols an Österreich anstrebt. Vor allem aber gibt es aufgrund des Kriegsendes große Unsicherheit über die Zukunft Südtirols. 
Von den naheliegenden Balkons beginnen Meraner NS-Sympathisanten, die SS-Soldaten aufzuhetzen. Sie sollen schießen. Die Täter, von denen keine genaue Zahl bekannt ist, bleiben in den Folgejahren unbestraft. Die Alliierten machen es der italienischen Justiz unmöglich, rechtliche Maßnahmen zu ergreifen. Diejenigen, die für das Massaker plädieren, etwa die Krankenschwester Herta Maringgele und drei Angehörige einer gewissen Familie Knoll, werden der Kollaboration beschuldigt und verurteilt. 

Die historische Wahrheit liegt mit Sicherheit irgendwo dazwischen

Die Historiographie ist sich über die Zahl der Opfer uneins. Die Gedenktafel am Puccini Theater erinnert an insgesamt zehn Namen. Jedenfalls werden weitere zwanzig Demonstranten verletzt, elf schwer. Für den Lokalhistoriker Paolo Valente ist der 30. April schließlich auf einen Kommunikationsfehler bzw. ein Missverständnis zwischen deutschen und italienischen Truppen zurückzuführen. Es gebe ansonsten keinen Grund für die SS-Männer, abgesehen von rachelustiger Frustration, in dieser Situation auf Unbewaffnete zu schießen. 
Die Geschichte Südtirols wird in den Jahren der Nachkriegszeit immer wieder in gegenwärtigen politischen Linien erzählt, so dass lange Zeit zwei gegensätzliche Narrative gegeneinander ausgespielt werden. Im italienischen Diskurs spricht man hauptsächlich von der deutschen Besatzung, wohingegen die deutschsprachige Erinnerung eher beim Faschismus allein liegt. Doch die historische Wahrheit liegt mit Sicherheit irgendwo dazwischen. 

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Hartmuth Staffler Sat, 04/30/2022 - 14:18

Das Problem liegt hier wohl eher darin, dass sich der ehemalige Faschist und danach angebliche Widerständler Bruno de Angelis mit seinem Freund, dem SS-General Karl Wolf, der ihn dann ja zum Präfekten von Südtirol eingesetzt hat, nicht ausreichend abgesprochen hat. Aufgrund dieser Missverständnisse hat es ja noch zahlreiche andere Tote gegeben, an die heute niemand erinnert, weil sie nicht in das offizielle italienische Geschichtsbild passen. Aber für einen nationalistischen Bürgermeister in Meran ist das Massaker ein gefundenes Fressen.

Sat, 04/30/2022 - 14:18 Permalink
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△rtim post Sat, 04/30/2022 - 17:26

Bei einer ideologischen, politischen Engführung der Geschichtsschreibung wird eben bewusst ausgeblendet. So z.B. hier, dass es auch den Widerstand des Andreas-Hofer-Bundes gegen Faschismus und Nationalsozialismus und die aktive Zusammenarbeit mit den Alliierten gab. Ethnische Zugehörigkeiten im Allgemeinen, wie Italienisch, Deutsch und die Gleichsetzung mit Gewalt- und Terrorherrschaft, sind Verallgemeinerungen bestimmter Hetzpropaganda.
Zum Gesamtbild gehört hier, es gab zahlreiche Endphaseverbrechen, in einigen Fällen sogar noch nach der in Kraft getretenen Kapitulation.
Insgesamt waren in dem Zeitraum mehr als 1700 Opfer zu beklagen. Die meisten Opfer, über 840, waren in Venetien zu verzeichnen. Im Piemont waren es über 280, in Friaul-Julisch Venetien knapp 220, in der Lombardei über 190 und im Südtirol-Trentino knapp 170 Tote.
Die Republik, welche den zweiten und letzten faschistischen Staat in Italien darstellte, hörte erst am 2. Mai 1945 auf zu existieren, als die am 29. April dieses Jahres unterzeichnete Kapitulation der deutschen und republikanisch-italienischen Streitkräfte im Norden des Landes wirksam wurde.
Vgl. auch, Federico Melotti: 13 giorni di sangue. L’Italia settentrionale e il Veneto, 23 aprile-6 maggio 1945. In: Gianluca Fulvetti, Paolo Pezzino (Hrsg.): Zone di guerra, geografie di sangue: L’atlante delle stragi naziste e fasciste in Italia (1943–1945). Il Mulino, Bologna 2016 ISBN 978-88-15-26788-7 S. 282.

Sat, 04/30/2022 - 17:26 Permalink
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Josef Fulterer Sun, 05/01/2022 - 05:59

In reply to by △rtim post

Die eigentlichen Verursacher der über 1.700 Toten nach dem Waffenstillstand in Italien, der Kriegsverbrecher Hitler und sein Gewissen-loser Propagandaminister Göbbels, sind mit ihrer Devise vom "Wehrwolf und dem deutschen Volk das untergehen soll, wenn es zum Siegen nicht imstand ist," spätetestens ab 1944 auch für viele Millionen Toten und die Verantwortungs-losen Zerstörungen die Hauptschuldigen.
Mit schäbigen Selbstmorden haben sie sich viel zu spät, samt ihren Familien aus der Verantwortung gestohlen, für die ihre leichtfertigen NS-Vasallen mit den Nürnberger Urteilen büßen mussten.

Sun, 05/01/2022 - 05:59 Permalink
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Hartmuth Staffler Sun, 05/01/2022 - 08:32

In reply to by Josef Fulterer

Das Massaker von Meran hat aber nicht nach dem Waffenstillstand stattgefunden. Es war noch Krieg (der Titel dieses Artikels ist irreführend), und zwar die Endphase des Krieges in Südtirol, die davon gekennzeichnet war dass SS-Schergen, die sich vor der Verantwortung drücken wollten, den Schulterschluss mit den italienischen Partisanen suchten, bei denen es sich wiederum um ehemalige Faschisten handelte.

Sun, 05/01/2022 - 08:32 Permalink