alle Seelen
Der weiche Grund gibt unter ihren Füßen nach. Die Sandalen in der Hand, macht sie einen letzten Spaziergang durch dieLärchenwiesen. Zirpendes Surren. Die Grillen. Wie beruhigend doch dieser monotone und doch vielschichtige Geräuschteppich ist. Sie liebt Wiesen.
Das ewig stumpfe Schnauben der grauen Arterien des Konglomerates aus Glas, Stein und Stahl hat Matilde für ein paar Tage hinter sich gelassen. Die pulsierende Stadt weit weg.
Eingehüllt vom warmen Dunst, wiegen dieHalme sanft hin und her. Und mit ihnen dieInsekten. Die Schwalben segeln dicht über dem Wiesenboden. Schlecht Wetter prophezeite ihre Grossmutter an solchen Nachmittagen. Ihr Blick schweift über den Himmel, hinter der Bergkette ziehen einige Wolken auf.
Sie atmet tief durch und setzt sich ins Grün. Lässt sich nach hinten fallen. Schließt dieAugen. Der leichte Duft von verrottetem Gras, Laub und überreifen Früchten hängt in der Luft. Der Herbst, der Süße. So duftet vergängliche Ewigkeit. Schöne Grausamkeit. Bunte Vorahnung auf graue Tage.
Matilde krallt ein Grasbüschel. Hält es fest. Zieht daran. Lässt wieder los. Auch dieschweren Gedanken, die sie in letzter Zeit so quälten. Wie weisse Dunstschwaden lösen sie sich langsam auf. Klar. Der tief blaue Himmel über ihr - unendlich.
Der hört nie auf, denkt sie; muss mich nicht festkrallen, um nicht zu fallen. Sie hält mich fest. Zieht mich an. Muss gar nichts tun. Die Erde dreht sich unscheinbar und leicht. Sie hält sich durch unsichtbare Kräfte ständig in Bewegung. Dreht sich. Ins Licht. In den Schatten. Wieder ins Licht. In den Schatten ... Es ist nicht die Sonne die bald untergehen wird. Es ist die Erde, die sich unermüdlich dreht. 'Die Erde dreht sich in den Schatten' klingt nicht so poetisch wie das Wort 'Sonnenuntergang'.
Liegt die Poesie dieses Wortes in seiner Reife, seiner alten Tradition?
"Die Frucht", sagt die Hebamme " ... wir nennen es nicht Fötus, sondern Frucht, dienicht ausreift und abgestoßen wird von Ihrem Körper. Das ist ein völlig natürlicher Prozess..." hallt es plötzlich in Matildes Kopf nach. Doch der Gesang der Grillen gewinnt bald wieder die Vorherrschaft in ihrem Ohr. Sie nickt ein.
Am Nachmittag setzen sie zögerlich ein. DieWehen. Sie glaubt ungefähr zu wissen, was sie erwarten wird. Sie hat schon zwei Kinder zur Welt gebracht. Sie wird unruhig, nervös. Versucht Ruhe zu bewahren. Ablenkung - ihre zwei Kinder sind bei ihr zuhause - das ist gut so.
Der stechende Schmerz setzt sich immer tiefer in ihr Becken. Die Nervosität steigt. Bildhaft stellt sie sich vor, wie die kopierten Schwarz Weiß Schemata aus der Mappe des Vorbereitungskurses zum Leben erwachen. Sie kann die zyklisch wiederkehrenden Schmerzen zuordnen. Das hilft - dem Kopf zumindest.
Der Abend kommt. Und mit ihm auch Paul. Er bringt Sophie und Luis ins Bett. Die GuteNachtGeschichte will nicht enden. Dann klingelt Anna. Sie hat versprochen, sich um die Kinder zu kümmern, wenn es soweit ist. Matilde muss jetzt bereit sein. Ihre Gedanken werden nun nur noch von ihrem Körper kontrolliert. Alles andere um sie herum verliert an Bedeutung. Ein stechender Druck füllt ihr Becken aus. Es ist Zeit.
"Danke Anna, bis später! Ich meld mich telefonisch!" ruft Paul noch von der Haustür aus Richtung Wohnung.
Luis will noch nicht schlafen und hängt sich quengelnd an an Annas Füße.
Klinik. Notaufnahme.
"Name?" tönt es aus der Klappe.
"Grund der Aufnahme?"
Paul drängt. "Gibt es eine Liege für meine Frau, bitte?"
Eine Liege. Vor Jahren hatten sie sich während eines Krimis über den Unterschied zwischen Liege und Bahre unterhalten.Die Bahre ist für die Toten, die Liege für die Kranken. Zwei Worte für dasselbe Möbelstück, über deren Bezeichnung schlussendlich der Tod oder das Leben entscheidet. Worauf liegt sie heute Abend?
Matilde lässt dem Druck nach. Es ist da. Auf der Liege. Auf der Bahre.
Wie ein sich zusammenbrauendes Gewitter breitet sich nach der körperlichen Erleichterung ein tiefer seelischer Schmerz aus. Sie weint. Sie heult. Kann nicht aufhören. Die Kehle, die über die letzten Tage hindurch in ein immer enger werdendes Korsett der Ungewissheit geschnürt wurde, platzt auf einmal auf. Der Arzt kommt. Die Spritze wirkt. Der Schmerz lässt nach, ihre Sicht ebenfalls...
"Viele machen das auch zu Hause auf der Toilette."
Es ist ein Schlag ins Gesicht. Die Wange, diefür kurze Zeit mit dem Herzen ungefragt den Platz tauscht, brennt. Die Schwester legt ihr eine neue Infusion an. Sie ist erschöpft. Das Klebeband juckt. Matilde kratzt sich am Arm.
Tiefes Blau weit und breit. Sie kann den davonfliegenden Schmetterling am Arm nur noch im Augenwinkel sehen. Erschrocken, wegen ihrer impulshaften Bewegung, hat er die Flucht ergriffen. Nur die Grillen hocken irgendwo in ihren Löchern und liefern unbeirrt den Soundtrack für diesen Spätsommertag. Sie muss in der Wiese kurz eingenickt sein.
Sie zieht sich ihre Sandalen an und steht leicht benommen auf. Den Abdruck im Gras lässt sie, wie auch die letzten Traumfetzten in der Wiese liegen. Unvergessen. Die Grillen halten Wache. Sie macht sich auf den Weg zurück ins Hotel.
Die kleine blaue Tasche ist schon gepackt. Heute trägt sie sich leichter, als bei ihrer Ankunft vor drei Tagen.
Sophie und Luis stehen ungeduldig neben ihrem Vater in der Bahnhofshalle. Er hat Matilde entdeckt. Die Sonnenbrille im Haar schlendert sie zwischen hin und herlaufenden Menschen Richtung Ausgang. Er nimmt die Kinder an der Hand. Geht mit strahlendem Gesicht auf sie zu. "Mama!" rufen beide gleichzeitig und stürmen auf sie zu.
Matilde ist froh sie wiederzusehen. Nicht mehr nachdenken. Leben. Es dreht sich weiter. Meine unsichtbaren Kräfte, das sind sie, die drei, denkt sie.
Der große dunkelblaue Fleck auf Pauls Hemd verrät die Eissorte, die sich noch vor kurzem auf Luis Waffel befand. Er küsst sie sanft auf die Wange.
"Papa wollte unbedingt was von Luis' Eis abhaben, und dann - alles am Boden... naja fast alles..." petzt Sophie und starrt belustigt den Farbtupfer am Hemd ihres Vaters an.
"Meine drei Kinder!" Matilde lacht und drückt Paul an sich.
"Vier!" meint Luis. Matilde und Paul schauen sich und dann ihren Jüngsten an.
"Vier Kinder! Auch wenn wir sie nicht sehen, ist sie immer bei uns. Hast du gesagt. Wie die Sonne in der Nacht. Die Sonne geht nicht unter!" sagt Luis in der Bahnhofshalle - mit einer Leichtigkeit, wie nur Kinder sie beherrschen.
Es fängt endlich an zu regnen.