Hüten als Königsdisziplin

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Zwischen Natur, Narrativ und Politik: Die Sonderausstellung „Gras und Zähne – al pascolo – may safely graze“ widmet sich der alpinen Weidewirtschaft – und damit einem Spannungsfeld zwischen Landschaftsnutzung, Herdenschutz und gesellschaftlichem Wandel. Was auf den ersten Blick nach Idylle klingt, offenbart sich bei näherem Hinsehen als komplexes System, in dem globale Debatten um Tierwohl, Klimawandel, Artenvielfalt und kulturelle Identität ineinandergreifen.
Wissen, das in vermeintlich einfachen Tätigkeiten steckt.
Der Katalog zur Ausstellung wurde am vergangenen Samstag, 10. Mai, in Mals vorgestellt. Schnell wurde klar: Der Katalog ist nicht nur ein bloßes Begleitprodukt zur Ausstellung, sondern eine eigenständige Sammlung von Stimmen, Bildern und Erzählungen. Der Leser erhält einen Einblick in die naturnahe Arbeitskultur von Menschen, die von Weidevieh, Raubtieren, Hängen, Hunden, Lawinen, Angst oder Stolz sprechen und dabei unschätzbares Wissen offenbaren, das in vermeintlich „einfachen“ Tätigkeiten steckt. Die Vorstellungsveranstaltung betonte, dass das Sprechen über Weidewirtschaft längst ein Sprechen über Gesellschaft ist – und darüber, wem wir zuhören.
Zuhören konnte man dem erfahrenen Hirten Erich Höchenberger, der von seinem Alltag mit Schafen und Wölfen berichtete und Alexander Holzner, dessen Beitrag zur mobilen stressfreien Schlachtung den Katalog abschließt. Aus Respekt vor den Tieren um die Kreisläufe zu schließen und nicht zuletzt um die lokale Tierhaltung zu sichern, appellierte letzterer an einen bewussten Fleischkonsum: weniger oft Fleisch, dafür von höherer Qualität.
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Hüten als Königsdisziplin
Erich Höchenberger langjähriger Wanderschäfer aus Taufers im Münstertal, gewährte Einblick in seinen Alltag als Hirte auf der hochalpinen Krippaland-Alm – einem steilen, steinigen Gelände, das er als „größten Bockberg“ bezeichnet. Mit Leidenschaft sprach er über den Wandel traditioneller Hütesysteme, über die Herausforderungen der Wolfsrückkehr und darüber, wie viel Erfahrung, Geduld und Beobachtung es braucht, um mit Hunden und Schafen in dieser Landschaft zu bestehen.
„Wir müssen mehr von den Schafen lernen, als die Schafe von uns.“
Hüten sei für ihn „die Königsdisziplin“ – ein Balanceakt zwischen Tierverhalten, Naturrhythmus und Schutzmaßnahmen. Eindrücklich schilderte Höchenberger, wie er eine Herde aus Schafen von vielen Besitzern geformt hatte. Die Voraussetzung für jede Art von Weide- und Herdenmanagement, schließlich auch, um Schutzmaßnahmen durchzuführen. Sein Plädoyer: Wer Weidewirtschaft erhalten will, müsse sie aktiv betreiben, nicht bloß fordern. „Wir müssen mehr von den Schafen lernen, als die Schafe von uns“, betonte er – und plädierte zugleich dafür, Hirtenwissen endlich wieder als das zu behandeln, was es sei: Erfahrungswissen für die Zukunft.
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Oft ignoriert, selten gehört
Beinahe spürbar und mit einer sympathischen Brise Ironie brachte Höchenberger dem Publikum nahe, wie physisch und psychisch fordernd seine Arbeit als Hirte ist – und das auch noch bei dürftigem gesellschaftlichen Rückhalt. Die Lage vieler Hirtinnen und Hirten im Alpenraum formuliert er so: „Oft ignoriert, selten gehört". Dabei sei es gerade jene Arbeit, die an der Schnittstelle zwischen Landschaftspflege, Tierwohl und Konfliktbewältigung stehe.
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Behirtung: eine Notwendigkeit
Der Blick zurück in die Geschichte der Weidewirtschaft prägte auch die Vorstellung des Katalogs „Gras und Zähne“ zur gleichnamigen Sonderausstellung im Naturmuseum Bozen. In der Gesprächsrunde erinnerten sich Zeitzeugen an eine Praxis, die noch bis in die 1960er-Jahre im Ober- und Mittelvinschgau selbstverständlich war: Dorfhirten führten Ziegen täglich auf die Weiden – im Sommer wie im Winter. Der Katalog zeigt anhand seltener Fotografien und historischer Quellen diese vergangene Alltagskultur. Hirtinnen, Kinderhirten und Almhirten waren einst fester Bestandteil des ländlichen Sozialgefüges – auch dann noch als die großen Beutegreifer längst verschwunden waren. Die Weideflächen, die Ackerkulturen und Mähwiesen mussten respektiert werden, die Hirten sorgten, dass die Tiere dort weideten, wo sie sollten. Die vorgestellten Beiträge machen deutlich: Behirtung war eine Notwendigkeit – und könnte es wieder sein. Beispiele zur Professionalisierung der Weideführung aus Bayern, Österreich und Graubünden zeigen, wie eine nachhaltige Zukunft der Almwirtschaft aussehen könnte – wenn nicht immer wieder die Wolfsdebatte alles überlagern würde.
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Der Ausstellungskatalog „Gras und Zähne – al pascolo – may safely graze“ wurde vom Naturmuseum Südtirol / Museo di Scienze Naturali dell’Alto Adige herausgegeben. Die Konzeption, Recherche, Organisation, Redaktion, Interviewführung, Textbeiträge sowie das Lektorat lagen maßgeblich in den Händen von Johanna Platzgummer.
Die Ausstellung wurde im Rahmen des EU-Projekts „LIFEstockProtect“ konzipiert und umgesetzt. Dieses zielt darauf ab, den Schutz von Weidetieren vor großen Beutegreifern wie dem Wolf zu verbessern, insbesondere durch Herdenschutzmaßnahmen.
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