Kunst | In Gedenken

Zu Gast im idealen Palast

Heute jährt sich der 100. Todestag eines weniger bekannten Künstlers, der als Landbriefträger in 33 Jahren einen Palast gestaltet hat.
Mit Bildern Anno 2007 des Palais Ideal von Facteur Cheval, dem vielleicht einzigen Beispiel naiver Architektur.
Palais Ideal, Ferdinand Cheval, 2007
Foto: Privat
  • Im Familienurlaub von der dritten Klasse Mittelschule auf das erste Jahr Oberschule ging es für meinen Bruder, meine Eltern und mich mehrere Wochen campend durch Südfrankreich. Um meinem Bruder und mir die Möglichkeit zu geben, die Route mitzugestalten, durften wir uns jeweils für eine Tages-Etappe entscheiden und bekamen dafür den Reiseführer auf die Rückbank gereicht. Kurz und knapp stand da die Geschichte von Joseph Ferdinand Cheval, besser bekannt ohne den Joseph und noch besser als Facteur Cheval. Mich lockte damals Carcassonne, meinen Bruder das uns allen unbekannte Hautrives, etwas nördlich gelegen.
    Die Schöpfung des Facteurs in seinem ehemaligen Gemüsegarten war 2007 auch der einzige Anziehungspunkt, nach Reiseführer von damals und Lokalaugenschein mit 14 Jahren am Ort mit etwas weniger als 2000 Einwohnern in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Vor 100 Jahren ist dort ein ganz besonderer Landbriefträger 88-jährig verstorben. Es ist der Palais Ideal auch das einzige, was einen als Touristen (etwas anderes waren wir damals nicht, wenngleich wir nicht zur Hauptsaison kamen und uns gut benommen haben), außer dem Grab des Facteurs, in den Ort ziehen könnte. Zu diesem kommen wir noch. Also beginnen wir beim 12 Meter hohen und 26 Meter langen Palais Ideal, im Gemüsegarten.

  • Le Palais Idéal: Ohne Architekturkenntnisse einen Palast bauen? Es reichten für Facteur Cheval sechs Jahre Schulbildung, Bäcker-Erfahrung und seine langen Wege als Landbriefbote, um anzufangen. Bis zur Fertigstellung sollten 33 Jahre vergehen. Foto: Privat
  • Als sich Ferdinand Cheval 1879, der 43-jährig als Witwer in zweiter Ehe, bereits 12 Jahre als Briefträger und zuvor auch noch knapp 12 Jahre als Bäcker tätig war -  kurz, bereits ein Leben gelebt hatte - auf seinem täglichen, 30 Kilometer langen Fußweg, beim Austragen der Post an einem ungewöhnlichen Stein den Fuß stieß, beginnt die Geschichte des Palasts. So will es die Legende haben und es fiel dem Postboten ein Tagtraum wieder ein, mit dem er sich am langen Weg die Zeit vertrieben hatte. In der Nähe von Tersanne stolperte Cheval über das erste Bauteil seines Palasts, das wie vieles, das er auf seinen Touren bis zur Pensionierung bis (1896) finden sollte,  im detailreich gebauten Palast Einzug hielt. In 33 Jahren war Ferdinand Cheval einziger Architekt und Bauarbeiter, das Ergebnis ist ein zwar nicht bewohnbarer Tempel der Fantasie, der aber begangen, besessen und bestaunt werden kann.

  • Der Facteur: Was bringt einen Mann dazu, für 33 Jahre neben der Arbeit an der Verwirklichung einer Träumerei zu schuften? Foto: Gemeinfrei

    Nicht nur das am Wegrand „angeschwemmte“ Treibgut, das Cheval einsammeln sollte, sondern auch Tieren und Mythen sollte eine zentrale Bedeutung für das einzigartige Bauwerk zukommen. In den Baujahren 1879 bis 1912 fanden auch Bilder mehr und mehr an Bedeutung, es boomen Postkarten und Illustrierte, vielleicht wurde der Palast auch deswegen stark bildhaft und reiselustig in seinen Details. Die irrsinnige, in ihren Anfängen sicher belächelte Arbeit im Alleingang führte zu einem Bauwerk mit zahlreichen Zitaten und Sentenzen. Sie sind ihm eingeschrieben und dabei häufig eher phonetisch als recht-geschrieben. Die Welt war in Chevals Fantasie zu Gast. Mir imponiert nicht nur diese Grenzenlosigkeit beim Schöpfen von Inspiration, sondern auch die stoische Ruhe mit der er seine Vision zu Ende führte, was Anerkennung vor allem aus Kreisen der Surrealisten, darunter Frisch und Picasso, finden sollte, so dass das Bauwerk auf Initiative des damaligen Kulturministers André Malraux, ab 1969 zur historischen Stätte erklärt wurde.

    Bevor wir aber zur Bildergalerie kommen, bleibt noch der Ort der letzten Ruhe Joseph Ferdinand Chevals zu nennen. Eigentlich hätte er in seinem Palais Ideal die ideale letzte Ruhestätte gefunden. Das Gesetz wollte es, dass dies nur nach einer Einäscherung möglich sei und einäschern wollte sich der alte Cheval nicht lassen. Nach zwei Jahren Baupause machte sich der Macher wieder mit der Schubkarre auf den Weg und verbrachte acht seiner neun letzten Lebensjahre mit dem Bau seines selbstgestalteten „Tombeau du silence et du repos sans fin“. Auf dass er, Ferdinand Cheval, 100 Jahre später, zur Ruhe gekommen ist. Die Fantasie tut es nicht.