Kultur | Sakralkunst

Berliner Muff

In einer Kirche in Berlin hängt seit 25 Jahren eines der umstrittensten Kruzifixe der Kirchengeschichte. Geschaffen hat es der Künstler Hans Perathoner (1872–1946).
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Foto: Angela M. Arnold/Wikipedia
  • „Hab sie vor einigen Jahren besichtigt. Sehr eindrucksvoll“, berichtet der Kultur- und Kunstkenner Wolfgang Moroder zu einem Kirchenbesuch in Berlin, vor allem aber auf die Nachfrage von SALTO zu einem 1930 in Auftrag gegebenen Kruzifix des Künstlers Hans Perathoner (1872–1946) für die St. Martin Kirche in Kaulsdorf, im Ortsteil im Bezirk Marzahn-Hellersdorf in Berlin. Dort hing Perathoners Kruzifix allerdings nur wenige Monate. Heute ist seine wuchtige Arbeit Teil der Ausstattung in der römisch-katholischen Kirche Von der Verklärung des Herrn, einem Kirchengebäude ebenfalls in Berlin, welches Mitte der 1980er-Jahre im Zusammenhang mit der Neubebauung des Bezirks Marzahn errichtet wurde. Dazwischen hing die Christus-Figur von 1964 bis 1986 in der evangelischen Hoffnungskirche im Berliner Stadtteil Pankow. Gut drei Jahrzehnte war sie zuvor allerdings von der Bildfläche verschwunden, nachdem sie unmittelbar nach der Eröffnung zu heftigen Protesten geführt hatte – Perathoners Kruzifix sei Gotteslästerung, hieß es.
     

    Perathoners Skulptur verschwand in einer Berliner Scheune.

  • Aufhängen oder Abhängen: Der Christus von Hans Perathoner in der St. Martins Kirche in Kaulsdorf. Wurden dem Kruzifix die Weihnachtsfeiertage 1930 zum Verhängnis? Foto: web.archive.org

    Kurz vor Weihnachten des Jahres 1930, am 19. Dezember, wurde Perathoners Kruzifix noch für gut befunden und feierlich eingeweiht. Dann sorgte es aber wohl während der darauffolgenden Weihnachtsfeiertage für dermaßen konträre Meinungen, sodass bereits am 10. Jänner 1931 eine schriftliche Mahnung vonseiten des Bischofs erfolgte, der noch zuvor Perathoners Christus bei der Einweihung mit lobenden Worten für den in St. Peter bei Lajen im Grödnertal aufgewachsenen Künstler bedachte. Zwar kam es zu einem Einspruch des Kirchenvorstands, der allerdings abgelehnt wurde. Kurz darauf erfolgte die Abnahme des Kruzifixes. Perathoners Skulptur verschwand in einer Berliner Scheune.

    Wer aber war denn nun dieser famose Künstler aus Südtirol? Hans Perathoner wurde am 21. November 1872 in St. Peter geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er besuchte in St. Peter zunächst die Grundschule, später auch in Campidello im Fassatal, wohin die Familie nach Verlust des Hofes zwischenzeitlich ziehen musste. Ab dem 14. Lebensjahr begann er, trotz Widerstands gegen seine Berufswahl im Elternhaus, seine Ausbildung in Brixen beim angesehenen Bildhauer Franz Tavella. 1893 erhielt Hans Perathoner eine erste Auszeichnung für eine Madonna in Innsbruck. Es sollten viele weitere Preise folgen. Nach seiner Dienstzeit beim Kaiserjägerregiment und der Schaffung einer Büste für Erzherzog Johann wurde er mit 25 Jahren an der Akademie in München aufgenommen und vollendete die Ausbildung mit einer lobenden Erwähnung. Perathoner arbeitete auch als Dozent, stellte aus, hatte zahlreiche Aufträge und fertigte viele Skulpturen. Auch für den öffentlichen Raum. Wie etwa das Leineweberdenkmal – heute ein Wahrzeichen der Stadt Bielefeld – im Jahr 1909, wo er seit 1907 die Bildhauerklasse an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule Bielefeld leitete. Dort lernte er außerdem die Lehrerin Johanna Schneider kennen, die er 1910 in Trier heiratete und mit der er zwei Töchter zeugte, die Zwillingsschwestern Marie und Johanna.
     

    Kunstwerk oder Ungetüm?

  • Perathoner-Biografie: Im ständigen Kampf mit dem Kunstverständnis und mit zu gestrengen Kirchgängern. Foto: KunstSinn

    Hans Perathoner und die Einführung der Moderne in Bielefeld nennt sich ein im Verlag KunstSinn erschienenes Buch. Geschrieben hat es der Bielefelder Journalist Ulrich Schmidt. In den sieben Jahren von Perathoners Wirkens in Bielefeld schuf der Künstler aus dem Grödental nämlich weitere Werke im öffentlichen Raum wie etwa die Reliefs am Bezirkskommando oder an der Kapelle auf dem Sennefriedhof. Daneben trat er als Entwerfer für Silberarbeiten hervor. Schmidt hat zahlreiche Informationen zum Hansl da Pontives zusammengetragen, zu dessen Zeit in München und auch den Jahren nach Bielefeld in Charlottenburg. 

    1921 erfolgte die Ernennung Perathoners zum Professor und die Ausgestaltung der Kriegergedächtniskapelle im Charlottenburger Rathaus. Zehn Jahre später dann der große Skandal rund um seinen Christus, den er aus einem 40 Zentner schweren Eichenblock fertigte. Schmidt schildert ausführlich die Diskussionen um Perathoners Kruzifix. Der Anschein eines innerkirchlichen Kleinkrieges mit reichlich Kleingeistigkeit verstauber Geistlichkeiten kann nur unschwer geleugnet werden.

  • Große Arbeit, wenig Ruhm: Hans Perathoner bei der Fertigung seines Christus für die Berliner St. Martin Kirche in Kaulsdorf. Foto: KunstSinn

    Eine Wiederauferstehung im übertragenen Sinn erlangte die Arbeit in der DDR. „Wer einmal diese Figur gesehen hat, wird sie wohl nie wieder vergessen“, hieß es nach der erneuten Hängung in der Hoffnungskirche in Berlin. Perathoners Christus komme „auf die Menschen zu, er saugt sie durch seine befehlende Haltung an“, dabei enthalte sie „nichts Sentimentales“, so der Tenor. 75 Prozent der Befragten an der neuen Stätte sprachen sich für Perathoners Christus aus – rund zwanzig Jahre nach dem Tod des Künstlers 1946. 
    In der Hoffnungskirche blieb das Kruzifix bis 1986. Ab Ostern im Jahr 2000 gelangte es an den heutigen Standort. Ob „Kunstwerk“ oder „Ungetüm“ – es folgten natürlich weiterhin Debatten um den Christus –, zeigt sich dennoch, so Schmidt, dass sich Perathoners Kruzifix als „zäh und langlebig“ behauptet. 

  • Berliner Grödner: Hans Perathoner auf Besuch in seiner Heimat in den 1930er Jahren. Sein umstrittenes Kruzifix lagerte zum Zeitpunkt dieser Aufnahme in einer Scheune in Berlin. Foto: KunstSinn
  • Neben Perathoners Künstlerkarriere samt Skandalen wird im Buch auch die Wiederannäherung an Südtirol thematisiert. Nach Jahrzehnten in Deutschland fuhr er ab Mitte der 1920er-Jahre mehrmals ins Grödnertal. 1934 kaufte der inzwischen über 60-Jährige Perathoner die Foreser Hütte auf der Seiser Alm. Der Versuch einer Rückkehr? Daraus wurde aber nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nichts. 

  • Aktueller Standort: Die Arbeit des in Gröden ausgewachsenen Hans Perathoner hängt nun seit 25 Jahren in der Kirche "Von der Verklärung des Herrn" in Berlin Marzahn. So viele Jahre war es noch nie in einer Kirche zu sehen. Foto: Kirche Von der Verklärung des Herrn

    Den Unterlagen nach enden Perathoners Aufenthalte in Südtirol mit dem Jahr 1937, schreibt Schmidt. Im Anhang dankt der Autor unter anderem Gottfried Solderer, der im Raetia Verlag bereits 2009 und 2014 ein Buch zu dem in Südtirol fast vergessenen Künstler machen wollte  – ein Vorhaben, das allerdings wegen mangelnder Unterstützung aus Bielefeld scheiterte. Außerdem gehen dankende Worte an Thomas Kager (ebenfalls vom Verlag), an Anton Sotriffer, der zur Erforschung von Perathoners Familiengeschichte beitrug und natürlich an den Nachlassverwalter Johannes Faber.

    Der von Perathoners Werdegang und vom Kruzifx in Berlin beeindruckte Wolfgang Moroder verweist auf seine „Webseite anno 1996“, wo er bereits einige Arbeiten – unter anderem den Berliner Christus – auflistet, sowie einen ausführlichen Beitrag von Rudolf Moroder-Rudolfine über den Hans Perathoner de Pontives. Moroders Webeintrag zeigt auch eine Darstellung seines Großvaters mit dem bekannten Künstler.

    Zwischen Ärgernis und Torheit – das Perathoner-Kreuz nannte sich im Frühjahr 2001 in der Kirche Von der Verklärung des Herrn eine Diskussionen am gegenwärtigen Aufenthaltsort von Perathoners vermeintlicher Skandal-Arbeit in Berlin. Seitdem ist es mehr oder weniger ruhig um seinen Christus. Ob er beim nächsten Skandal nach Gröden gebracht wird, steht in den Sternen oder in den Akten kunst(un)sinniger Kirchenväter. Vielleicht widmen die Grödnerinnen und Grödner dem bekannten Künstler ja zum 80. Todesjahr eine Ausstellung und zeigen das (un)bekannte Kruzifix im Tal. Ein Hingucker (oder besser Hinaufgucker) ist die vier Meter große Perathoner-Skulptur allemal. Oder: gib ihr die ewige Ruhe, in Berlin!