Kultur | Gastbeitrag

Frauen und regionale Erinnerungskultur

Frauen in der regionalen Erinnerungskultur? Ein Bericht zum Forschungsprojekt "Frauenbiografien und Straßennamen". Inkl. Fußnoten.
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Foto: Geschichte und Region
  • Das Forschungsprojekt Frauenbiografien und Straßennamen basiert auf einem Beschlussantrag der Grünen Fraktion im Südtiroler Landtag aus dem Jahr 2018. Dieser Antrag beauftragte das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen, „eine Liste von Frauen zu erstellen, die sich in den Bereichen Geschichte, Kultur, Politik, Kunst, Wissenschaft, Sport usw. in Südtirol und der Welt hervorgetan haben.“ Ziel war es den Südtiroler Gemeinden eine Orientierungshilfe für künftige Benennungen zur Verfügung zu stellen.[1]
    Zwischen Juni 2021 und März 2023 wurde ein Vademecum mit rund 200 biografischen Skizzen erstellt.[2] Es versteht sich als wissenschaftliche Grundlage für Diskussionen rund um Straßennamen und zeigt beispielhaft, wie Frauen in der Geschichte sichtbar gemacht und stärker in die Erinnerungskultur aufgenommen werden können.

  • Franziska Cont: Foto: Salto.bz
  • Straßennamen und Erinnerungskultur

    In Italien sind 6,6 Prozent aller nach Personen benannten Verkehrsflächen Frauen gewidmet, so eine 2021 veröffentlichte Studie der 21 Hauptstädte der Regionen und autonomen Provinzen: Unter den untersuchten Städten weist die Landeshauptstadt Bozen mit 13 Prozent den höchsten Anteil auf[3]. Detaillierte statistische Analysen für die gesamte Provinz stehen noch aus. Eine erste Auswertung zeigt jedoch, dass weibliche Straßennamen außerhalb der Landeshauptstadt deutlich seltener anzutreffen sind.[4]
    Die männliche Dominanz in den Straßenbenennungen lässt sich auf eine enge Verknüpfung der europäischen Erinnerungskulturen mit den Nationalisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts zurückführen, so die Historikerinnen Sylvia Paletschek und Sylvia Schraut. Die in diesem Kontext entwickelten ‚mainstream-Deutungen‘ von Geschichte, ihr Fokus auf Politik und ihre enthistorisierenden Orientierung am bürgerlichen Geschlechtsmodell, wirken demnach fort und marginalisieren Frauen weiterhin als handelnde Subjekte der Erinnerungskultur.[5]Straßennamen spiegeln somit auch heute noch historische Geschlechtervorstellungen des 19. Jahrhunderts wider. Dabei sind sie jedoch mehr als bloße Orientierungshilfen: Der Kulturgeograf Maoz Azaryahu betont, dass Straßennamen durch ihren alltäglichen, oft unbewussten Gebrauch zur Legitimierung und Konsolidierung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen.[6]
    Aus geschlechterhistorischen Perspektive lässt sich folgern, dass Benennungen, die sich an der ‚nationalen‘ Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts orientieren, zur Legitimation und Tradierung stereotyper Geschlechterbilder beitragen. Im Gegenzug können Benennungen nach Frauen und damit ihre öffentliche Sichtbarmachung als Instrument zur Dekonstruktion bürgerlicher Geschlechtervorstellungen und den damit einhergehenden Machtstrukturen verstanden werden.

  • Benennungskategorien neu gedacht

    Das Vademecum Frauenbiografien und Straßennamen will mit seiner exemplarischen Auswahl an biografischen Skizzen verschiedene weibliche Handlungs- und Wirkungsbereiche beleuchten und damit die Frage nach der Definition von ‚biografie-, erinnerungs- und ehrungswürdig‘ stellen.
    Für die Auswahl der biografischen Skizzen wurden Kriterien festgelegt, die im Handbuch erläutert sind. Neben einer internationalen Ebene wurde auch eine regional-lokale berücksichtigt, um kleinräumige Kontexte, in denen Frauen vermehrt tätig waren, stärker in den Fokus zu rücken. Die Kurzbiografien wurden nach Wirkungsbereichen gegliedert. Dabei wurden ‚klassische‘ Benennungskategorien (wie Politik, Wissenschaft, Kunst oder Widerstand) aus einer geschlechtssensiblen Perspektive erweitert definiert. Zudem wurden neue Kategorien wie das soziale Engagement eingeführt, das in der Benennungspraxis bisher wenig Beachtung fand.[7]
    Im Folgenden werden die Kategorien des sozialen Engagements und jene des Widerstandes genauer ausgeführt.
    Die Kategorie des ‚Gedenkens an Widerstand, Verfolgung und Vernichtung‘ erfährt im Handbuch eine geschlechtssensible Erweiterung ihrer Definition. So steht nicht der militärisch-politische Widerstand im Mittelpunkt, sondern subversives Handeln in stereotyp weiblichen Lebensbereichen. Beispielhaft kann hier Sr. Edwina Aberham (1881-1956) genannt werden. Sie war zur Zeit der ‚Option‘ Oberin des Jesuheims in Girlan, einer Einrichtung für Menschen mit psychischer Erkrankung, geistiger und/oder körperlicher Behinderung. Während im Psychiatrischen Krankenhaus von Pergine den Patient*innen der deutschen Sprachgruppe nahegelegt wurde für das Deutsche Reich zu optieren, zeigte Sr. Edwina wenig Willen zur Kooperation mit den Optionsbehörden. Sie wusste wohl über die reichsdeutschen ‚Euthanasie‘-Bestrebungen Bescheid und schützte ihre ‚Pfleglinge‘ vor der ‚Absiedlung‘ und der möglichen Tötung, indem sie versuchte, sie in ihrer Optionsentscheidung zu beeinflussen, ihnen Optionsformulare vorenthielt oder falsche Dokumente aushändigte.[8]
    Dem Wirkungsbereich des sozialen Engagements kommt im Handbuch eine zentrale Rolle zu. Dadurch soll entgegen den naturalisierenden Annahmen und Abwertungen des 19. Jahrhunderts die öffentlich-gesellschaftliche Bedeutung von Pflege-, Gesundheits-, und Erziehungstätigkeiten in historischer Perspektive herausgearbeitet und als ‚erinnerungs- und auszeichnungswürdig‘ zur Diskussion gestellt werden.[9] So findet sich im Handbuch beispielsweise die biografische Skizze der ehemaligen Gemeindehebamme Maria Schwingshackl Enz (19091996). Sie war über vier Jahrzehnte in Gsies, einem Seitental des Pustertals, tätig und begleitete über 1.000 Geburten. Ihre Tätigkeit ging weit über den eigentlichen Beruf hinaus: Für die Dorfgemeinschaft war sie nicht nur Hebamme, sondern auch Vertrauensperson und Ansprechpartnerin für alle gesundheitlichen und persönlichen Probleme und Anliegen.[10]

  • Aussichten

    Das Vademecum will anhand der biografischen Skizzen von bisher wenig beachteten und/oder unbekannten Frauen auf Möglichkeiten der weiblichen Inklusion in die bestehende Erinnerungskultur aufmerksam machen. Dabei wird deutlich, dass es für die Sichtbarmachung von Frauen notwendig ist, sich von einer klassisch politiklastigen Erinnerungskultur zu lösen, um weiblichen Lebenslinien und Wirkungsfeldern zu folgen.
    Das Handbuch wurde bereits für einen Benennungsvorschlag herangezogen: 2022 verpflichtete sich der Regionalrat, „Strukturen, Orte und Flächen der institutionellen Sitze der Region zu ermitteln, die nach Frauen benannt werden können […].“ Die vom Landesbeirat für Chancengleichheit der Provinz Bozen vorgeschlagenen Persönlichkeiten stammen aus dem Handbuch.[11] Die Benennung wurde bislang jedoch noch nicht durchgeführt. [12] Die Initiative ist gerade deshalb nennenswert, da sie institutionelle Gebäude als Orte für Frauennamen vorsieht und damit der Gefahr entgegenwirkt, alte Hierarchien durch neue zu ersetzen: Denn neue Straßennamen entstehen meist in peripheren Stadt- und Ortserweiterungsgebieten, häufig sind es neuen Wohnsiedlungen oder Industriegebieten. Diese Benennungen würden zwar Frauennamen in das Straßennetz einschreiben, jedoch eine Hierarchie schaffen, bei der Frauen an den Rändern und Männer in den Zentren der Dörfer und Städte dominieren.[13]

  • [1] XV. Legislaturperiode, Wortprotokoll der Landtagssitzung Nr. 199 vom 07.03.2018, 19.
    [2] Das Vademecum wurde unter der Leitung von Siglinde Clementi und der Mitarbeit von Franziska Cont erstellt und ist online verfügbar: Franziska Cont (herausgegeben von Siglinde Clementi), Frauenbiografien und Straßennamen. Leitfaden zur Benennung von Straßen und Plätzen in Südtirol, Bozen 2023; online unter: https://www.unibz.it/assets/Events/Pdf/Api/204482.pdf, 24.06.2024, Das Handbuch soll in Kürze auch in italienischer Sprache erscheinen.
    [3] Vgl. Giorgio Comai/Alice Corona, Perché la toponomastica riguarda ognunɘ di noi, online unter: https://italy.mappingdiversity.eu/, 13.03.2024; Für Bozen werden 22 Straßennamen angegeben, da die Erhebung jedoch nicht den aktuellen Stand berücksichtigt, kann von einer leicht erhöhten Zahl ausgegangen werden.
    [4] Vgl. Mara Mantinger/Wolfgang Tessardi, Südtirols Straßennamen. Wie soll sie heißen?, in: Barfuss. Das Südtiroler Onlinemagazin, online unter: https://www.barfuss.it/leben/wie-soll-sie-hei%C3%9Fen, 18.03.2024.
    [5] Vgl. Sylvia Schraut/Sylvia Paletschek, Erinnerung und Geschlecht – auf der Suche nach einer transnationalen Erinnerungskultur in Europa. In: Historische Mitteilungen 19 (2006), 15–28, hier 16.
    [6] Vgl. Mao Azaryahu, The Power of Commemorative Street Names. In: Environment and Planning D: Society and Space, 14 (1996), 3, 311–330, hier 319.
    [7] Für einen Einblick in bestehende Benennungskategorien wurde die vom Südtiroler Gemeindeverband online zur Verfügung gestellte Tabelle aller Südtiroler Straßennamen (Stand 2017) quantitativ ausgewertet; Siehe: https://data.civis.bz.it/de/dataset/streetnames-from-addresspoints, 18.03.2024.
    [8] Vgl. Ivi, 429-431.
    [9] Vgl. Alexandra Scheele, Arbeit und Geschlecht: Erwerbsarbeit, Hausarbeit und Care. In: Beate Kortendiek et al. (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden 2019, 753–762; Birgit Riegraf, Care, Care-Arbeit und Geschlecht: gesellschaftliche Veränderungen und theoretische Auseinandersetzungen. In: Kortendiek, Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 763–772.
    [10] Vgl. Cont, Frauenbiografien und Straßennamen, 224-225.
    [11] Vorgeschlagen wurden: Maria Hueber, Edwina (Elisabeth Maria) Aberham, Maria Nicolussi, Angela Nikoletti, Waltraud Gebert Deeg, Lidia Brisca Menapace, Andreina Ardizzone Emeri, Ilda (Hilda) Pizzinini, Mariedl (Maria) Fischnaller Pircher, Gertrud Gänsbacher Calenzani, Elisabetta Boscheri, Maria Ducia, Mariasilvia Spolato
    [12] XVI. Gesetzugebungsperiode, Prot. Nr. 2268 Reg.Rat vom 17. Juli 2023.
    [13] Siehe dafür: Christiane Hintermann/Herbert Pichler, Gendered Spaces in the City: Critical Topography in Geography Education. In: GI_Forum – Journal for Geographic Information Science 1 (2025), 287-298, hier 292.

  • Ein Textbeitrag aus der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitschrift Il Cristallo

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Profil für Benutzer Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler Sa., 28.12.2024 - 21:15

Mit der Eliminierung faschistischer Straßennamen könnte man auch bei uns mehr Platz für Frauen auf den Straßenschildern schaffen, ohne sie in die Peripherie zu verdrängen. Aber das ist wohl zu viel verlangt.

Sa., 28.12.2024 - 21:15 Permalink