Realutopien 2024
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„Wir befinden uns im selben Sturm, aber mit unterschiedlichen Mitteln, um ihm zu begegnen“, so beschreibt Paola Imperatore, Aktivistin und Sozialforscherin an der Universität Pisa, die Klimakrise. Sie ist eine der internationalen Expertinnen und Experten, die bei den diesjährigen Toblacher Gesprächen referierten.
Im Zentrum der Tagung mit dem Titel „Hoffung wider aller Hoffnung. Einspruch gegen die Alternativlosigkeit“ stand die Frage, wie drängende Probleme nicht nur endlos lange diskutiert, sondern auch gelöst werden können. Das helfe nicht nur der Gesellschaft, sondern steigere auch das Wohlbefinden der Einzelnen, erklärt taz-Journalistin und Autorin Ute Scheub.
„Eine Demokratie ohne Demokraten ist morgen keine mehr.“
Während Angst und Stress die eigene Urteilsfähigkeit beeinträchtigen und über einen längeren Zeitraum sogar Depressionen auslösen können, wirkt sich das Gefühl der Freude positiv auf unser Handeln aus. Hier geht Scheub hart mit der eigenen Branche ins Gericht: „Wir werden derzeit fast erschlagen von schlechten Nachrichten. Das liegt nicht nur an den realen Krisen und Katastrophen, sondern auch an der Machart von Medien“, so Scheub. Sie plädiert für konstruktiven Journalismus, der eine lösungsorientierte Berichterstattung bietet.
Außerdem brauche es Gestaltungsräume für Bürgerinnen und Bürger, um Realutopien aus Nischen herauszuholen und für eine möglichst breite Zielgruppe zugänglich zu machen. Ein erster Schritt sei beispielsweise die Neugestaltung von Rathausplätzen, die in Europa heute häufig kein Treffpunkt der Dorfbevölkerung mehr sind, sondern Parkplätze für Autos.
In ihrem neuen Bildband „Zukunftsbilder 2045“ stellt sie gemeinsam mit Stella Schaller, Lino Zeddies und Sebastian Vollmar Szenarien vor, die auf Gemeinwohl, regeneratives Wirtschaften und naturnahe Flächen ausgelegt sind. Eines dieser Zukunftsbilder wurde als Titelbild des Artikels gewählt, es zeigt die utopische Visualisierung von Vehlefanz in Brandenburg.
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Um Utopien wie diese umzusetzen, seien nicht unbedingt parlamentarische Mehrheiten nötig, erklärt Lars Hochmann, Professor für Transformation und Unternehmung in Koblenz. Denn herrschende Institutionen seien sowieso nicht in der Lage, Krisen zu lösen, höchstens sie zu organisieren. Deshalb sei es durchaus sinnvoll, geschriebene oder ungeschriebene Regeln zu brechen, die es uns derzeit so schwer machen, das Richtige zu tun.
Gemeinsam mit Sebastian Möller hat Hochmann das Buch „Organisationen hacken“ geschrieben und Beispiele vorgestellt, wo Menschen einfach mal machen und so Hochschulpolitik unter Druck setzen, die Vier-Tage-Woche einführen oder Industrieunternehmen für Nachhaltigkeit begeistern. „Sie sind aktiv geworden, weil sie ihren Werten folgen und nicht auf grünes Licht von oben gewartet haben“, erklärt Hochmann.
Dass ausgewählte Institutionen wie die repräsentative Demokratie nicht nur trotz, sondern auch wegen der Krisen von heute, schützenswert sind, betont hingegen Paulina Fröhlich, stellvertretende Geschäftsführerin des Progressiven Zentrums in Berlin. „Eine Demokratie ohne Demokraten ist morgen keine mehr“, warnt sie in ihrem Vortrag in Toblach.
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Was unter Demokratie zu verstehen ist, sei dabei kein unwichtiges Detail. Wie eine Analyse der von Rechts organisierten „Montagsdemonstrationen“ in Ostdeutschland zeigt, wünschen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Demos eine möglichst direkte Demokratie. Jegliche repräsentative Institutionen und Prozesse würden dem im Weg stehen. Der Staat vertrete aus ihrer Sicht zuallerst das Volk der Deutschen – Minderheiten und internationale Abkommen seien zweitrangig.
Dieses Beispiel zeigt, in welchen Spannungsfeldern sich Demokratie heute befindet. Fröhlich benennt hier vier große Felder, insbesondere in Bezug auf die Klimakrise: Erstens stehe die Geschwindigkeit der langsamen Gesetzgebung dem Fortschreiten des Klimawandels gegenüber. Zweitens haben ältere Generationen bei Wahlen möglicherweise andere Interessen als jüngere oder diese sind noch gar nicht wahlberechtigt. Drittens muss Klimapolitik lokal sowie global gedacht werden und viertens besteht ein Spannungsfeld zwischen Einzelperson und Gesellschaft im Kampf gegen die Erderwärmung.
Fröhlich fordert deshalb eine resiliente Demokratie, die zwar auf einer festen Grundbasis steht, aber sich trotzdem lernfähig zeigt und selbstkritisch ist. Dafür brauche es eine funktionierende Gewaltenteilung, engagierte, pflichtbewusste Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen zersetzende Kräfte wehren.
Die diesjährigen Toblacher Gespräche machen damit Mut, die eigene Komfortzone zu verlassen – und hin und wieder Regeln zu brechen.
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