Politik | Offener Brief

Das „Patentino“ aus der Sackgasse

Die gefälschten Zweisprachigkeitsdiplome sind das Symptom eines Systemfehlers: Die bisherige Politik hat aber das Problem nicht gelöst und ein Paradigmenwechsel muss her.
patentino
Foto: LPA/ Dienststelle für die Zwei- und Dreisprachigkeitsprüfungen
  • Ein Fall wie der um die gefälschten Zweisprachigkeitsnachweise darf sich nicht wiederholen. Unser Land soll die Heimat aller sein, die hier leben.  Dank der deutschsprachigen Mehrheit und der italienischen Minderheit im Land und inzwischen auch dank des Beitrags unserer neuen Mitbürger ist Südtirol reich, wohlhabend und noch schöner geworden. Und es hat Zukunft.

    Ethnischer Proporz und Zweisprachigkeit sind Eckpfeiler unserer Autonomie und somit unveräußerlich. Unsere Verwaltung, vor allem die der öffentlichen Gesundheit, ist jedoch nicht in der Lage, mit diesen Prinzipien ordentlich umzugehen. Das System funktioniert nicht. Die politische Mehrheitsvertretung Südtirols, die seit 70 Jahren die gleiche ist, muss sich die Frage stellen lassen, ob und wie sie das ändern will. Die Lösung darf allerdings nicht von der italienischen Minderheit erzwungen werden. 

     

    Die Politik hat die Pflicht, den Bürgern das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache zu garantieren. Das tut sie jedoch nicht. 

     

    Die Politik hat die Pflicht, den Bürgern das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache zu garantieren. Das tut sie jedoch nicht. Manchmal trifft es Italiener, häufiger deutschsprachige Südtiroler. Es gibt nicht ausreichend zweisprachige Angestellte. Es fehlt an qualifiziertem Personal, und es gibt auch nicht genug deutschsprachige Südtiroler, um die ihnen gemäß Proporz vorbehaltenen Stellen zu besetzen. Der öffentliche Dienst wird zwangsläufig schlechter. Vor 30 Jahren hat noch niemand daran gedacht, auf die Privatmedizin zurückzugreifen. Heute zwingen uns endlose Wartelisten dazu. Viele Patienten verzichten auch bei uns schlicht auf Behandlung.

    Die Landesregierung muss dafür sorgen, dass zweisprachige Ärzte nach ethnischem Proporz angestellt werden. Nachdem wir das Angebot nicht haben, muss die SVP als Erstverantwortliche im Land eine Lösung finden. Wir haben viele Südtiroler Ärzte, die immer mehr es vorziehen, im deutschsprachigen Ausland zu bleiben. Warum wird dieser Ausnahme-Realität nicht mit außerordentlichen Maßnahmen entgegnet? Eine starke Erhöhung der Zweisprachigkeitszulage könnte die höheren Gehälter im Ausland ausgleichen. Wenn wir nicht in der Lage sind, zweisprachige Ärzte zu gewinnen, haben wir nur zwei Alternativen: Entweder wir verzichten auf Ärzte oder wir verzichten auf die Zweisprachigkeitspflicht.

  • Elio Dellantonio

    In Bozen 1954 geboren, in Fleimstal italienische Volkschule, nach Meran übersiedelt, dort die deutsche Mittelschule und das klassische Lyzeum Beda Weber besucht. 1978 das Medizinstudium in Innsbruck absolviert. Ab Jänner 1979 im psychiatrischen Dienst Bozen, 1982 Facharzt für Psychiatrie in Verona, ab 1989 den Dienst für Abhängigkeitaerkrankungen in Bozen geleitet. Seit 2017 in Pension. Letzthin verantwortlich für Sanitätspolitik der Demokratischen Partei Südtirol.

    Foto: SALTO
  • Die gefälschten Zweisprachigkeitsdiplome sind das Symptom eines Systemfehlers. Wir wissen genau, dass es im Gesundheitswesen das Recht auf echte Zweisprachigkeit für alle nicht gibt. Wir gaukeln uns vor, als würde das Prinzip voll und ganz beachtet sein. Das gesamte Management des Sanitätsbetriebs weiß das und tut, als würde alles nach Vorschrift funktionieren. Ist alles Fiktion. Man muss nur ein bisschen reden mit den Leuten. Dann versteht man gleich, wie viele Ärzte zweisprachig (Standard-Deutsch) sind, und wie schwer für sie die Umgangssprache ist. 

    Schauen wir uns doch die Zahlen an: Es gibt etwas mehr als 1.200 Ärzte im öffentlichen Sanitätsbetrieb. Etwa 1.000 sind fest angestellt, mehr als 300 Italiener, 200 haben keinen Zweisprachigkeitsnachweis. Fast 200 Stellen sind unbesetzt. Zwischen 40 und 45 % der Ärzte sind Italiener, 15 % haben kein „Patentino“. Von 211 Ärzten in Ausbildung sind nur 110 in Südtirol geboren. Das bedeutet: 101 junge Ärzte kommen von außerhalb des Landes, mehrheitlich aus anderen Provinzen Italiens, und unser öffentlicher Gesundheitsdienst wird in absehbarer Zeit zu fast 50 Prozent von diesen abhängig sein.

     

    Das als Instrument der Pflicht, des Zwangs und der Ausgrenzung empfundene „Patentino“ muss zugunsten einer echten Zweisprachigkeit überwunden werden. 

     

    Die Tabus Proporz und Zweisprachigkeit belasten unseren öffentlichen Gesundheitsdienst schwer. Was einmal ein Aushängeschild war, gerät ins Wanken. Echte, gesprochene und gelebte Zweisprachigkeit ist notwendig und muss angestrebt werden. Die bisherige Politik hat aber das Problem nicht gelöst und ein Paradigmenwechsel muss her: Das als Instrument der Pflicht, des Zwangs und der Ausgrenzung empfundene „Patentino“ muss zugunsten einer echten Zweisprachigkeit überwunden werden. Erst eine solche kann eine Chance, ein Mehrwert, ein Lebensprojekt für den Einzelnen und Wohlstand der Gemeinschaft sein.

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Evelin Grenier Mo., 31.03.2025 - 18:11

"Das als Instrument der Pflicht, des Zwangs und der Ausgrenzung empfundene „Patentino“ muss zugunsten einer echten Zweisprachigkeit überwunden werden."

Ich verstehe das nicht, niemand ist gezwungen sich zweisprachig zu verkaufen, wenn er/sie es nicht ist.
Niemand ist gezwungen als Arzt nach Südtirol umzuziehen wenn er schon im Vorfeld weiß, dass er Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und Umfeld hat.

Ich habe im Krankenhaus oft gewählt Deutsch zu sprechen, obwohl es für mich keine Muttersprache ist und in 80% der Fälle haben italienische Ärzte (und Ärzte ausländischer Herkunft) einen guten bis sehr guten Deutsch gesprochen.
Wenn aber deutschsprachige Ärzte in den Nachbarländern viel besser verdienen, ist es sicher eine gute Idee die Löhne/Gehälter hier anzupassen.

Mo., 31.03.2025 - 18:11 Permalink
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Evelin Grenier Mo., 31.03.2025 - 18:29

Dann versteht man gleich, wie viele Ärzte zweisprachig (Standard-Deutsch) sind, und wie schwer für sie die Umgangssprache ist.

Was hier oft fehlt ist nicht das Verstehen von der Umgangssprache, sondern der Respekt gegenüber einen Patienten der Dialekt spricht.

Ich bin 100% überzeugt dass ein Arzt mit guten Standarddeutschkenntnissen ist durchaus in der Lage mit einem Dialektsprechenden Patienten zu kommunizieren.
Wichtig ist, dass er frei von Vorurteilen ist und auf den Respekt vor dem Patienten achtet.

Mo., 31.03.2025 - 18:29 Permalink
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pérvasion Mo., 31.03.2025 - 20:50

»Ethnischer Proporz und Zweisprachigkeit sind Eckpfeiler unserer Autonomie und somit unveräußerlich.«

versus

»Die Tabus Proporz und Zweisprachigkeit belasten unseren öffentlichen Gesundheitsdienst schwer.«

Ich frage mich gerade, worauf der Autor wirklich hinaus will.

Mo., 31.03.2025 - 20:50 Permalink
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Salto User
Oliver Hopfgartner Mo., 31.03.2025 - 21:24

Ich habe ein paar faszinierende Selbstbeobachtungen gemacht: Als ich eingeschult wurde, habe ich mich auf die zweite Klasse gefreut, weil ich dachte, wenn ich dann italienisch in der Schule lerne, kann ich im Urlaub besser mit den italienischen Kindern am Strand spielen und reden.

Nach 13 Jahren Pflichtschule in Südtirol und einem Studium im Ausland habe ich festgestellt, dass die meisten Österreicher, die in der Schule vier Jahre Italienisch als Fremdsprache gelernt haben gleich gut wenn nicht sogar zum Teil besser italienisch sprechen als so mancher Südtiroler mit Matura.

Ich selbst spreche z.B. sicher besser englisch als italienisch, einfach weil ich englisch jede Woche brauche und italienisch nicht. Für mich ist auch klar, dass ich meine Italienischkenntnisse insbesondere im medizinischen Kontext gezielt aufbessern muss, bevor ich nach Südtirol zurückkehre - ganz unabhängig vom Zweisprachigkeitsnachweis. Was nützt ein Wisch Papier, wenn man nicht im Stande ist ein für den Patienten gut verständliches Anamnesegespräch zu führen?

Ich denke es ist auch ein Kulturproblem. Viele Deutschsprachige haben Hemmungen was Italienisch angeht. Ich vermute, dass da unbewusst auch noch die Geschichte Südtirols mitspielt. Dass man von italienischsprachigen Bürgern immer wieder Sprüche wie "siamo in Italia, quindi si parla italiano" hört, macht das natürlich nicht besser. Die englische Sprache ist diesbezüglich nicht belastet.

Nichtsdestotrotz glaube ich, dass die Behandlungsqualität besser ist, wenn zwei Muttersprachler aufeinander treffen, weil dann die Kommunikation noch runder läuft und wir wissen, dass die meisten Behandlungsfehler auf Kommunikationsfehlern beruhen.

Ich finde auch die Idee gut, die Zweisprachigkeitszulage zu erhöhen. Eine ergänzende Maßnahme könnte sein, dass Ärzte ohne Zweisprachigkeitsnachweis verpflichtend 5 Wochenstunden ihrer Arbeitszeit einen Sprachkurs besuchen müssen und in dieser Zeit NICHT für klinische Tätigkeit am Patienten zur Verfügung stehen. Dies schafft nämlich ein Umfeld, in welchem alle Beteiligten (Betroffener, Arbeitskollegen und Chef) ein Interesse haben, dass der Betroffene rasch auf ein Sprachniveau kommt, um den Zweisprachigkeitstest zu bestehen. Aus meiner Erfahrung weiß ich nämlich, dass kaum jemand nach einem regulären Arbeitstag noch die Zeit oder die Muse hat, sich zum Sprache lernen hin zu setzen.

Mo., 31.03.2025 - 21:24 Permalink
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Josef Fulterer Mo., 31.03.2025 - 22:08

Mir ist ein Fall bekannt, in dem eine deutsch-Südtiroler-Muttersprachlerin in ausschließlich italienischen Wohngemeinschaften in einer italienischen Stadt Medizin studiert hat + "dreimal zu dieser bescheuerten Doppel-Sprachigkeits-Prüfung antreten musste, die ihre Professionalität mit 50 % Durchfliegenden zu beweisen versucht!"
Meines Erachtens würde es volkommem genügen, wenn der Vorgesetzte die Kenntnis der Verständigung (in diesem Fall mit dem Pazienten) überprüft.
Die Umgangs-Sprache ergibt sich aus dem Alltag!

Mo., 31.03.2025 - 22:08 Permalink
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Salto User
ruphus III Mo., 31.03.2025 - 22:21

In diesem Artikel von Salto werden die Positionen wiederholt, die Herr Dellantonio bereits in anderen Interviews geäußert hatte.
Man könnte sich bei einem so aufmerksamen und großen Publikum wie dem einer Zeitung fragen, warum man in der Provinz weiß, dass es Tausende von „zertifizierten“ Arbeitnehmern gibt, die nicht wirklich zweisprachig sind, es aber vorzieht, den Fall der beiden untreuen Ärzte als eine isolierte kriminelle Ausnahme zu betrachten?
Und warum hat sich die Zahl der Sprachzertifikate, die 600 km entfernt in Bozen, Bari, Neapel und Pozzuoli für 1.800 Euro abgelegt werden - die Prüfung vor Ort ist kostenlos - fast verdreifacht?
Im Jahr 2021 waren es 187, im Jahr 2023 sind es 775; die Zahlen für 2024 werden im Juni veröffentlicht. Dies sind die Zahlen, die jährlich von ASTAT veröffentlicht werden.
Sie sind auch auf Italienisch verfügbar. Und Sie können aus den Statistiken ersehen, dass sich die Bevölkerung unserer Provinz im gleichen Zeitraum nicht verdreifacht hat.
Die Idee, die wir gewonnen haben, Herr Dellantonio, ist, dass diese Vermehrung der „neuen zweisprachigen Bürger“ für die „alten Bürger“ in Ordnung ist und dass niemand jemals überprüfen will, wie diese Zertifikate ausgestellt wurden, weil das Ergebnis der Überprüfung das Prinzip, auf dem die Autonomie Südtirols beruht, zerstören könnte.
Es ist daher besser, dies festzustellen: "Ein Fall wie der der gefälschten zweisprachigen Urkunden darf sich nie wieder ereignen".

Mo., 31.03.2025 - 22:21 Permalink
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Profil für Benutzer Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler Mo., 31.03.2025 - 22:44

Ich kenne eine Kellnerin aus der Slowakei, die bei ihrer Ankunft in Südtirol nur Slowakisch und Ungarisch und ein klein wenig auch Deutsch sprach. Nach sechs Monaten sprach sie gut deutsch (sowohl Standarddeutsch als auch Dialekt) und Italienisch. Von einem Akademiker ist es wohl zu viel verlangt, dass er in einigen Jahren eine andere Sprache lernt. Zertifikate nützen nichts, wenn der Wille fehlt, die Sprache der Patienten zu verstehen oder gar zu sprechen.

Mo., 31.03.2025 - 22:44 Permalink
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Hartmuth Staffler Di., 01.04.2025 - 08:16

Antwort auf von franz

Allgemein nimmt man an, dass jemand, der imstande ist, einen Doktortitel zu erwerben, auch imstande sein sollte, eine andere Sprache zu erwerben. Laut Putin kann jeder Dummkopf in fünf Jahren eine Sprache erlernen. Er konnte nach fünf Jahren in der DDR perfekt Deutsch, weshalb ja auch die geheimdienstliche Tätigkeit der SU in Südtirol zu seinem Aufgabengebiet zählte.

Di., 01.04.2025 - 08:16 Permalink
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Stefan S Di., 01.04.2025 - 11:54

M.E. liegt das Problem immer noch überwiegend in den Köpfen der Gesellschaft. Der eine will nicht deutsch reden weil er sich ja auf italienischen Staatsgebiet befindet und der andere nicht Italienisch weil er dies als Schikane von einer Minderheit betrachtet.
Dabei ist es mit der Zweisprachigkeit wie mit dem tragen eines Fahrradhelm. Es gibt, nüchtern betrachtet, nur Vorteile wenn man Zweisprachig ist.
Solange man keine "Begeisterung" für dieses Thema vermitteln kann und es in großen Teilen nicht gelebt wird, letztendlich widerwillig praktiziert wird, solange wird das auch mittelfristig nicht besser werden.

Di., 01.04.2025 - 11:54 Permalink
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Salto User
Alor Di., 01.04.2025 - 12:41

Proporz ist Vergangenheit und für uns Junge Südtiroler und dieser Artikel bringt nur mehr Hass zwischen Sprachgruppen, und keine Arbeit wegen der Proporz zu finden, ist ein Grund weg von Südtirol umzuziehen. Proporz hat NICHTS mit Zweisprachigkeit zu tun.

Di., 01.04.2025 - 12:41 Permalink
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Profil für Benutzer Josef Fulterer
Josef Fulterer Mi., 02.04.2025 - 06:30

Das von der ROSA -e r f u n d e n e- + vom SVEN -a m - Kochen - g e h a l t e n e-, aber auch bei manchen SVP-MANDATAREN sehr beliebte THEMA, ist in der täglichen Praxis kaum verhanden!!!

Mi., 02.04.2025 - 06:30 Permalink