Kultur | SALTO Gespräch

Ambivalenzen und Widersprüche

Der Autor Thomas Casagrande hat der Geschichte seines Vaters nachgespürt. Und jener anderer Väter und Großväter aus Südtirol. Was sie eint? Sie waren bei der Waffen-SS.
Casagrande
Foto: SALTO
  • SALTO: Sie haben ein Buch über Südtiroler Täter der Waffen-SS und den Zugang zu diesen Menschen über deren Nachkommen geschrieben. Es ist ihr drittes Buch zu dieser doch sehr schwierigen Thematik. Warum lässt Sie diese Geschichte nicht los?

    Thomas Casagrande: In meinen ersten beiden Büchern – sie hatten durchaus schon mikrogeschichtliche Anteile –, ging es vor allem um die sogenannten „normalen Männer“, also nicht irgendwie darum, bekannte Täter im Vordergrund zu stellen oder etwa große Entscheider im Nationalsozialismus. Nach diesen ersten beiden Büchern – vor allem nach dem zweiten Buch über die Südtiroler in der Waffen SS –, sind Leute auf mich zugekommen und haben mich auf Lesungen angesprochen und erzählt: Mein Vater war auch bei der SS. Diese Menschen waren gespannt, was man dazu in den Archiven noch finden kann und fragten, ob ich ihnen dabei behilflich sein könnte. Über diese Kontakte hab ich dann Jahre später wiederum Leute angeschrieben und sie – wenn auch nicht alle – für dieses Buchprojekt getroffen. 
     

    Was hältst du denn auch nicht den Mund. Sag doch einfach: ja, du hast recht. Aber das konnte ich nicht! 

  • SS-Männer und ihre Kinder: In Gesprächen mit Söhnen, Töchtern und Enkeln von Angehörigen der Waffen-SS werden die Verletzungen, die Ambivalenzen der Gefühle, die Erfahrungen mit Gewalt und die noch immer aktuellen Spuren der Geschichte sichtbar. Foto: Edition Raetia

    Im Buch geht es um Väter und Großväter. Und es geht auch um ihren Vater…

    Es geht auch um mich und meinen Vater. Stimmt. 

    Ihr Vater verstarb bereits vor über 30 Jahren. Seine SS-Geschichte aufzuarbeiten begann für Sie unmittelbar darauf? 

    Solange mein Vater lebte, gab es eine sehr lebendige Auseinandersetzung, auch eine sehr streitbare, die zum Teil am Rand der Handgreiflichkeit war. Wir haben uns furchtbar gestritten – das wird auch an einer Stelle im Buch benannt –, wenn es um Partisanen ging, da hätten wir uns beinahe geprügelt. Da war schon dieser Wunsch da dagegen zu halten, den Vater zu provozieren. Er hatte ja seine Geschichte immer groß erzählt, von der Elite und der SS. Und solange ich ein Kind war, fand ich das alles ungeheuer abenteuerlich, aber als ich älter wurde, begriff ich, dass das alles viel komplizierter war und durchaus auch mit seiner Härte in der Erziehung zu tun hatte, die sehr soldatisch geprägt war, im Sinne, man müsse gehorchen, ansonsten müsse das einem beigebracht werden. Als er dann 1990 verstarb, war das ein Schock, auch weil das am Vorabend eines SS-Treffens passierte.

    Zufall?

    Ja, er ist auf dem SS-Veteranentreffen gestorben, es war das erste Treffen seit den 1950er Jahren, auf dem er war. Er war an einem Herzinfarkt gestorben. Ab diesem Moment hat es in mir gegrummelt. Das war dann praktisch der Auslöser, um herauszufinden wer der Vater wirklich war. Ich wusste nicht einmal seinen Dienstgrad und sein Regiment – hatte keine Ahnung. Und dann fand ich heraus, dass seine Division auch für das Massaker Oradour-sur-Glane 1944 in Frankreich verantwortlich war. Das war dann der endgültige Startschuss.

  • Vater und Sohn Casagrande: "Solange ich ein Kind war, fand ich das alles ungeheuer abenteuerlich..." Foto: Edition Raetia

    War sein Ableben hilfreich für das Aufarbeiten?

    Diese Väter vor uns zu sehen, da kommen wir ja nicht auf die Idee, in die Archive hinabzusteigen, sondern wir fragen sie persönlich: Wo warst du? Was hast du gemacht? Die Antworten lassen dann häufig vieles offen oder sie blenden aus. Was ich nach Jahrzehnten als Bewunderer und Anhänger von Oral History gelernt habe, dass ich gleichzeitig auch ein sehr, sehr misstrauischer Fan von Oral History bin. 
     

    Mich hat natürlich einmal vorweg interessiert: Was wussten die eigentlich? Wie sind die überhaupt zu Ihrem Wissen oder Ihrem Nichtwissen über die SS Geschichte des Vaters gekommen? 


    Und so basieren Ihre Recherchen nicht nur auf Zeitzeugenerzählungen. Sie haben sich auch durch viele Archive gekämpft…

    Für diese Publikation habe ich viel klassische Archivarbeit geleistet, und in einigen Fällen auch Feldpostbriefe ausgewertet.  Für die Interviews habe  ich einen Fragebogen entwickelt, eine Basis, die mir als Grundlage für das Gespräch mit den Hinterbliebenen diente. Es ging mir um Themen. Die Fragen dienten als Leitfaden.

    Was hat Sie bei Ihren Untersuchungen zu den Nachfahren von Südtirolern bei der Waffen-SS am dringendsten interessiert?

    Mich hat natürlich einmal vorweg interessiert: Was wussten die eigentlich? Wie sind die überhaupt zu Ihrem Wissen oder Ihrem Nichtwissen über die SS Geschichte des Vaters gekommen? Das zweite, was mich interessiert hat, war der Blick – auch der selbstkritische Blick –,inwieweit die Kinder selbst die Spuren ihrer Väter in sich entdecken können. Gibt es da vielleicht etwas? 

    Ihr Urteil?

    Ich habe nicht bewertet. Die Geschichten und Interviews sind sehr unterschiedlich und zum Teil ganz schwierig auszuhalten, weil sie ungeheuer leidvoll sind. Auf der anderen Seite wiederum sind sie so frei von Leid und unproblematisch.

  • SS-Mann mit Starallüren: Karl Nicolussi-Leck gab bis ins hohe Alter fragwürdige Autogramme für fragwürdige Fans. Foto: Edition Raetia

    Wie ist das bei Karl Nicolussi-Leck, dem angesehenen Kulturmann im Nachkriegssüdtirol. Wie hat er sich – wenn überhaupt – aus seiner frühen Vergangenheit gestohlen? 

    Nicolussi-Leck in eine klassische Figur, da bündeln sich viele Dinge fast wie durch ein Brennglas. Lange bevor alles losging als Mitglied des Völkischen Kampfrings Südtirols war er einer der führenden Südtiroler Aktivisten für eine Loslösung vom faschistischen Italien. Damit war er auch eine Führungsfigur für die jungen Südtiroler. Dass er sich freiwillig für die SS gemeldet hat, war dann auch wie ein Startschuss für die jungen Südtiroler, das ebenso zu tun. Die Fortsetzung dann – mit seinem wohl auch wirklich vorhandenen Selbstbewusstsein und Charisma –, machte ihn zu einem der höchst dekorierten Südtiroler Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Das passt genauso wie die nahtlose Fortsetzung seiner Erfolgsgeschichte nach dem Krieg. Er ging ja nach Argentinien und es gibt sehr kritische Stimmen über seine Geschäftsbeziehungen. Es ist bislang auch noch nicht endgültig geklärt, wie genau sein ökonomischer Aufstieg in Südamerika vonstatten ging, welche ehemaligen Nazis er dort traf. Jahrzehnte später war er eine durchaus geschätzte kulturelle Figur in Südtirol. 
     

    Es gibt im Buch Männer, die irgendwie schon auch bereut haben, die sich auch dafür entschuldigt oder fast entschuldigt haben. 


    Was kann man daraus schlussfolgern? 

    Wir müssen lernen, dass das Menschsein Ambivalenzen enthält und Widersprüche, die es möglich machen, dass jemand ein charismatischer Kunstförderer sein kann, ein liebevoller Vater und Großvater und gleichzeitig in anderen Momenten ein gnadenloser Krieger und zumindest Zaungast des Mordens. 

    Was leistet Ihr Buch?

    Ich würde sagen, dass diese acht Biografien und die Reaktionen der Kinder und Enkel auf ihre Väter und Großväter fast schon Archetypen des Umgangs mit der Geschichte sind. Wir haben sowohl sogenannte ganz einfache Soldaten, wo man aufgrund der Biografie sehen kann, dass sie eigentlich ziemlich sicher nicht in einem Vernichtungsprozess eingebunden waren, dann wiederum haben wir jemanden, der wirklich im Zentrum des Genozids stand…

  • Buchvorstellungen: Thomas Casagrande bei der Buchvorstellung auf der Buchmesse in Frankfurt. Vergangene Woche hat er "Schatten. Unsere Väter in der Waffen-SS" in Bozen vorgestellt. Foto: Thomas Casagrande

    Wie funktioniert Verdrängung?

    Krieg ist immer schrecklich. Bei meinem Vater war eine große Erleichterung zu verspüren, als er sich sehr intensiv mit dem Vietnamkrieg beschäftigte und was die Amerikaner dort in Vietnam machten – im Sinne: die sind ja nicht anders als wir. Oder: die sind ja noch schlimmer als wir. 
    Es gibt im Buch Männer, die irgendwie schon auch bereut haben, die sich auch dafür entschuldigt oder fast entschuldigt haben. Es gibt aber auch Männer, die im Grunde noch Jahrzehnte nach dem Krieg voller Judenhass, voller Hass auf Amerika waren und auch furchtbar im Umgang mit ihren Kindern.

    Welche Rolle spielen Frauen im Buch?

    Grundsätzlich werden auch alle Mütter der Interviewten zumindest kurz charakterisiert und soweit möglich ihr Verhältnis zu ihren Männern skizziert. Von den Interviewten selbst sind zwei Töchter und eine Enkeltochter. Der Rest männlich. Aus dem Gespräch mit einer Tochter geht hervor, dass ihre Brüder durchaus andere Erfahrungen gemacht haben, entweder dass der Bruder „anders angefasst“ wurde, weil er ja auch Soldat sein sollte. Ein Junge musste was Soldatisches haben.

    Zurück in Ihre Familiengeschichte. Wie steht Ihr Bruder zur familiären Aufarbeitung? 

    Mein Bruder ist für mich faszinierend, weil er ganz anders als ich ist . Wir verstehen uns super und wir sind richtig gute Brüder, aber er hat damals, als mein Vater lebte nie rebelliert, sondern ist einfach ausgewichen. Mein Bruder hat gemacht, was mein Vater sagte. Und ich hab nicht gemacht, was mein Vater sagte. Als wir Kinder waren, hat er mir – nachdem mein Vater mich geschlagen und ich geheult hatte – gesagt: Was hältst du denn auch nicht den Mund. Sag doch einfach: ja, du hast recht. Aber das konnte ich nicht! 

  • Thomas Casagrande

    Politologe und Autor, ehemals stellvertretender Direktor der Schulen des Deutschen Buchhandels, wohnhaft in Frankfurt. Sein Vater, Otto Casagrande (1919–1990), war Aktivist der illegalen NS-Bewegung in Südtirol und Mitglied der SS. Veröffentlichungen: „Die volksdeutsche SS-Division ‚Prinz Eugen‘. Die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen“ (Campus Verlag, 2003); „Südtiroler in der Waffen-SS: Vorbildliche Haltung, fanatische Überzeugung“ (Raetia, 2015).

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Josef Fulterer So., 24.11.2024 - 14:04

Wer jung von großer Statur + dazu noch möglichst blond war, ist im 2. Weltkrieg bei der SS gelandet. Dort begann unter einem sehr oft rabiaten Spieß, der Abbau von allem bisher Erlebten + der noch -n i c h t- gefestigten Persönlichkeit, um die Rekruten zu willfährigen auf Befehle getrimmten Kampfmaschinen zu machen.
Zu verurteilen sind die Schreibtisch-Täter, die ohne sich selber die Hände blutig zu machen, die schrecklichen Taten ausgedacht + angeordnet haben, für die nach dieser Zeit geborene Strathegen die Moral-Keule schwingen.

So., 24.11.2024 - 14:04 Permalink
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Hartmuth Staffler So., 24.11.2024 - 14:40

Ich finde es gut, was Thomas Casagrande da macht. Ich habe in meinem jüngsten Buch auch über einen Onkel geschrieben, der bei der Waffen-SS war, ohne große geschichtswissenschaftliche Ansprüche, sondern einfach als Beschreibung der Umstände, die damals einen jungen Menschen in die Waffen-SS getrieben haben, und wie er damit umgegangen ist. Ich bin überzeugt, dass sich Geschichte aus vielen solchen, oft sehr unterschiedlichen oder gar widersprüchlichen Erlebnissen zusammensetzt. Leider wird das Thema Zeitgeschichte in unserem gedruckten Massenmedium von einer Geschichtskoryphäe beherrscht, die keinen Wert auf Zeitzeugenberichte legt und daher auch entsprechende Leserbriefe nicht zulässt.

So., 24.11.2024 - 14:40 Permalink
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Hartmuth Staffler Mo., 25.11.2024 - 21:41

Bischof Muser hat auch in diesem Jahr wieder eine Messe für die im Vernichtungskrieg gegen Äthiopien gefallenen faschistischen Carabinieri und Schwarzhemden-Milizen gehalten. Am 21. November gedenken die Carabinieri ihrer Schutzpatronin, der Virgo fidelis, aber wenn man ein wenig "rogelt", dann kommt man darauf, dass diese Patronin im Jahr 1949 von Papst Pius XII. eingefühhrt wurde, um der in der Schlacht von Culqualber gefallenen Carabinieri und Schwarzhemden-Milizen zu gedenken. Die Carabinieri waren am 21. November von äthiopischen und englischen Soldaten besiegt worden, nachdem sie zuvor nach Kräften im verbrecherischen Vernichtungskrieg gegen Äthiopien mitgemischt hatten. Wie man sieht, wollen nicht nur die Medien nicht "roglen", sondern auch die Kirche ist dieser Ansicht.

Mo., 25.11.2024 - 21:41 Permalink