Gesellschaft | Fritto misto

50 Shades of Inkontinenz

Wie die Hausärzte zu Ausscheidungs-
Buchhaltern ihrer Patienten werden.
  • Es mangelt jetzt schon an Hausärzten, an allen Ecken und Enden, und bis 2031 werden laut dem Institut für Allgemeinmedizin nochmal 100 von ihnen in Pension gehen. Da hat man sich bei der Sanität etwas Besonders Reizvolles ausgedacht, um dem Nachwuchs den Job schmackhafter zu machen: Auf ein Computerprogramm umzustellen, mit dem ein großer Teil der Befunde nicht mehr abrufbar ist, war offenbar noch nicht Nervenkitzel genug; nun werden Hausärzte auch noch zum tiefen Blick in die Unterwäsche ihrer Patient*innen verpflichtet. Ab 1. Februar muss nämlich der oder die Hausärzt*in höchstpersönlich Heilbehelfe wie etwa Windeln verschreiben: Was vorher auch von der Sprechstundenhilfe erledigt werden konnte, bedarf nun einer Visite und dem Ausfüllen eines zweiseitigen Formulars – es muss dies der vielgepriesene Bürokratieabbau sein. Der Fragebogen indes erstaunt einen Laien, der, zumindest in meinem Fall, davon ausgegangen ist, man unterscheide vielleicht zwischen zwei Stufen der Inkontinenz: Man verliert ein bissl was oder man verliert halt schon ordentlich was, und je nachdem, wie arg es ist, bekommt man den niedrigeren oder höheren Beitrag zum Ankauf von diesbezüglichen Produkten gewährt. Weit gefehlt - aber ich habe ja auch keinen Master of Inkontinenz – den aber offensichtlich derjenige hat, der für das betreffende Formular verantwortlich zeichnet. So nuanciert und beharrlich wird hier nach Pipi und Co. gefragt, dass man sich die Schamesröte und Verzagtheit der älteren Herrschaften, die Auskunft geben müssen, bildlich vorstellen kann: Wie oft verlieren sie Urin (nie, etwa einmal pro Woche oder weniger als einmal pro Woche, zwei- oder dreimal pro Woche, etwa einmal pro Tag, mehrmals am Tag, immer)? Wie viel Urin verlieren Sie jedes Mal (keinen, kleine Mengen, mäßige Mengen, große Mengen)? Und überhaupt, wie ist der Stuhl? (fest, flüssig, Darmgase, Verwendung von Windel) und wie oft ist er jeweils in ebendieser Form (nie, weniger als einmal im Monat, öfter als einmal pro Monat aber weniger als einmal pro Woche, öfter als einmal pro Woche aber weniger als einmal am Tag, öfter als einmal am Tag)? Uff. Hausarzt Eugen Sleiter hat ein schwarzhumoriges Video dazu gemacht, aber Sie merken, es gilt akribisch und ganz unlustig Buch zu führen über Ausscheidungen, ihre unterschiedlichen Aggregatzustände, Menge und Frequenz, wenn man Herr oder Frau Doktor hier exakt Auskunft geben will. Nicht fünfzig aber immerhin fünf Stufen der Inkontinenz werden solcherart berechnet, und je nachdem, welche man erlangt, gibt’s mehr oder weniger Geld. Bei 75 Euro monatlich aber ist nun der Deckel drauf – Angehörige von schwer inkontinenten Pflegefällen geben im Monat übrigens leicht das Doppelte für Windeln aus. Und es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie so manche ältere Dame mit mickriger Rente in Zukunft selbst draufzahlen oder beim Verbrauch knausern wird müssen, weil sie bei der hochnotpeinlichen Befragung untertrieben hat. Dass der Gesundheitsbetrieb sparen muss, leuchtet ein: Die Inkontinenten werden in Zukunft ja mehr und nicht weniger. Dass Beiträge nicht willkürlich oder wahllos spendierfreudig gewährt werden sollen, macht auch Sinn. Offenbar war es in der Vergangenheit zu „Windel-Hortungen“ in Seniorenwohnungen gekommen, weil mehr eingekauft als benötigt wurde. Dennoch ist bislang nichts von einem florierenden Tena-Lady-Schwarzmarkt oder einem Missbrauch als Dämmmaterial in der Bauwirtschaft zu mir vorgedrungen; es dürfte sich also um Einzelfälle handeln – für die jetzt alle Betroffenen an die Kandare genommen werden und ihre Ausscheidungen buchhalterisch ausbreiten müssen. Sparen ist gut, aber wenn’s an die Würde geht: bitte überdenken. 

Bild
Profil für Benutzer Christian I
Christian I Di., 25.02.2025 - 12:38

Habe ich bereits vor einer Woche hier auf salto geschrieben: Hausärzte sind zu Bürokraten gemacht worden! Und dann wundert man sich noch, wenn sie wenig Zeit haben Patienten zu untersuchen.

Di., 25.02.2025 - 12:38 Permalink