"Die Gesellschaft" - ein Artefakt?

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Gesellschaftlicher Klebstoff gesucht!
Das Individuum konzentriert sich heutzutage vornehmlich darauf, sich selbst zu erforschen. Auf dem langen Weg hin zur scheinbaren Selbstfindung jagt es unermüdlich Antworten auf die Frage „Wer und warum bin ich?“ hinterher. Dieser „geozentrische“ Egoismus sabotiert die große historische Aufgabe, der unsere Vorfahren sich noch zur Gänze gewidmet haben: die Frage nach dem WIR.
Wer die Geschichte durchleuchtet, findet mannigfaltige Konzepte kollektiver Identitäten, die im Lauf der Zeit entweder an Attraktivität verloren (Christentum), pervertiert wurden (Nationalismus/Patriotismus) oder von der Geschichte falsifiziert wurden (Kommunismus). Nachdem diese identitätsstiftenden Bezugspunkte pulverisiert worden waren, folgte der Siegeszug des Individuums. Der globale Kapitalismus trug nicht unwesentlich dazu bei. Tradierte Werte, Kulturtechniken und große gemeinsame Erzählungen wichen der Emanzipation des Einzelnen, der sich – blickt man auf die heutige Welt – als selbstsüchtiger, destruktiver Vandale entpuppt hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Individualität ist essenziell und ein hohes Gut. Jedoch darf sie die nötigen Verbindungen zwischen den Menschen nicht kappen. Weder der Kollektivismus noch der Individualismus dürfen das jeweils andere überlagern oder gar verdrängen. Sie müssen vielmehr ineinander eingebettet werden. Der logische nächste Schritt der genannten kollektiven Bezugspunkte wäre wohl eine Art Europäismus gewesen, der allerdings nach wie vor in den Kinderschuhen steckt. Eine europäische Identität wäre die nächste evolutionäre Stufe – eine gemeinsame Erzählung, die erlauben würde, Trennendes und Gemeinsames zu versöhnen, zu akzeptieren, ja gar zu feiern. Stand heute ist diese Perspektive erloschen.
Doch es mangelt uns gänzlich an einer solchen „Klammer“, die uns dauerhaft als Gesellschaft zusammenhält, uns füreinander einstehen lässt. Diese Aufgabe, erfüllten früher eben – wenn auch in letzter Konsequenz oft mehr schlecht als recht – Nationalismus oder der Glaube. Ein großer Teil der aktuellen gesellschaftlichen Polarisierung hängt auch damit zusammen, dass schlussendlich keine Erzählung, kein Konzept mehr existiert, das die Einzelnen im Fall der Fälle ultima ratio eint. Das Trennende überschattet zuverlässig das Gemeinsame.
Ein solcher höherer Zweck ist unabdingbar, will man eine intakte, solidarische Gesellschaft schaffen, die überdauert. Eine Gruppe von Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass alle für sich genommen hedonistisch ihren eigenen Zielen folgen, wird keinen Gemeinsinn entwickeln und auch kein funktionierendes Gemeinwesen halten können. Sie wird sich letztendlich in ihre Einzelteile zerlegen. In einer multikulturellen Welt, in der die genannten klassischen, historischen Bezüge keine Option mehr sind, ist es also an uns, einen neuen Minimalkonsens, ein neues Narrativ zu finden, unter dem wir uns geeint sammeln können – im Fall der Fälle. Denn blickt man auf die aktuelle Weltlage, könnte letzterer früher oder später eintreffen.
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Der neoliberale…
Der neoliberale Raubtierkapitalismus steht in den Startlöchern und tritt nach dem Mauerfall seinen Siegeszug an. 1987 Margaret Tatcher: „There is no thing as society.“
"Ein großer Teil der…
"Ein großer Teil der aktuellen gesellschaftlichen Polarisierung hängt auch damit zusammen, dass schlussendlich keine Erzählung, kein Konzept mehr existiert, das die Einzelnen im Fall der Fälle ultima ratio eint. Das Trennende überschattet zuverlässig das Gemeinsame."
Dieser Meinung bin ich nicht.
Das gemeinsame verbindende Element unserer europäischen Gesellschaften sind immer noch die ethischen Grundlagen des Christentums die übers Mittelalter herauf über Humanismus und Aufklärung zur Formulierung der Menschenrechte geführt haben, die nach den Kriegen Eingang in die Verfassungen gefunden haben.
Sie wirken auch unabhängig von der Praktizierung der Religion (Christentum) in unserer Gesellschaft weiter und betonen den Individualismus (Recht jedes Einzelnen auf Schutz vor Übergriffen durch z.B. Institutionen und Unterordnung unter ein unterdrückendes Kollektiv das die Rechte des Einzelnen oder die bestimmter Gruppen einschränken will, sowie das Recht auf Entfaltung von individuellen Begabungen und Interessen) wodurch LEHRE und ETHIK des Christentums in der westlichen Welt geprägt wurde, wobei dieser Individualismus eingebettet ist in eine Gemeinschaft der der Einzelne auch verpflichtet ist, ohne seine individuellen Bestrebungen aufzugeben.
Diese Grundsätze speisen sich aus dem neuen Testament und fanden den Einzug in unsere Gesellschaften trotz des Widerstandes der Kirchen, die sich mehr den diversen politischen Mächten als der Lehre verpflichtet fühlten.
Wobei man auch heute sehen kann dass Solidarität mit anderen (Schwächeren) immer noch ein prägender Aspekt im Denken der Menschen einnimmt.
Die politischen Bestrebungen der letzten Jahre und auch aktuell, bestimmte auch große Gruppen aus dem gesellschaftlichen Leben auszugrenzen werden halt nicht zu einer Überwindung der Spaltung in der Gesellschaft führen, außer man will einen "Europäismus" ohne diese Gruppe schaffen.