Chronik | Wir und unsere Nachbarn

Enklave Friaul?

Mittlerweile kennt ihr mich: ein Blick auf die Landkarte lässt manchmal Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Logisches und Paradoxes können zum Schmunzeln und zum Nachdenken anregen – oder einfach einen alternativen, leicht visuellen Zugang zu tieferer Betrachtung öffnen. Also wieder einmal ein hoffnungsschwangerer Versuch, mit diesem visuellen Blick Unverständliches verständlicher zu machen. Nur, diesmal mag es nicht recht gelingen…

Venetien greift nach der Unabhängigkeit. Vielmehr nach der Selbstbestimmung, wie man als belehrter Südtiroler sich mittlerweile präzise auszudrücken weiß, aber in Venetien ist man da weniger zimperlich mit der Nomenklatur. „Independenza“ wohl nicht nur deshalb, weil die Venezianer beleidigt sind, als zweitgrößter Nettozahler keinen Minister in Renzis Regierung stellen zu dürfen. Wohl nicht nur deshalb, weil das Projekt Padania quer durch die Poebene als gescheitert betrachtet werden darf. Warum denn dann?

Die Argumentationskette der Lega Nord ist beachtlich: Die lokale Wirtschaft liegt darnieder. Die Arbeitslosenrate ist horrend. Und nicht einmal mehr vier Jahre der Lega an der Macht, mit Luca Zaia an den Schalthebeln der Region, reichen noch aus, um den Niedergang des einst so stolzen Venetiens abwenden zu können. (Ich gehe euch sicher auf die Nerven, wenn ich daran erinnere, dass es dem Scheitern der Legaregierung unter Gianpaolo Bottacin zu verdanken ist, dass die Provinz Belluno mittlerweile seit zwei Jahren kommissarisch verwaltet wird).

Wenn schon keine Vormachtstellung in Italien, dann wollte Venetien möglichst weitreichende Autonomie von selbigem Staate. Matteo Renzi ist gleich in seiner ersten Amtswoche nach Treviso gereist, um in einer Charmeoffensive zu verkündigen: «Sono un sostenitore indefesso dell'autonomia dei Comuni ma va detto che il federalismo fiscale è stato poco più che una barzelletta». Böse Zungen wollen Renzis Schulinitiative «Puntare sulla scuola contra la crisi» so interpretieren, dass er kein allzu großes Vertrauen in die heutige Erwachsenengeneration Venetiens hegt. «Che bello incontrare gli studenti! Sentivo la mancanza. Investire sulla scuola è il modo per uscire dalla crisi.» hat er getwittert und somit auch den Zeitrahmen der Genesung abgesteckt.

Warum so geduldig sein? Das Rezept der Lega ist doch viel konkreter: Referendum heute, eine Unabhängigkeits-Roadmap, die sich am Zeitplan Schottlands orientiert und somit selbstverständlich implizierte Lösung aller Probleme bis spätestens 2018. Im Wege stehen da nur noch die Alpen und deren Bewohner, die sich gegen A31 (Autostrada Valdastico Nord) und A27 (Alemagna) sträuben. Dabei fühlt sich Venetien mit dem nicht nur wirtschaftlich gut funktionierendem Bayern auf Augenhöhe und im Zeichen des Löwen brüderlich verbunden. Also, was liegt da näher, als sich bei der Alpen-Makroregion zu engagieren, eine vorreitende, tonangebende Rolle einzunehmen? Den lahmarschigen Berglern gedanklich vorauszueilen ist da sicher eine der kleineren der anstehenden Herausforderungen.

Apropos Bergler: die hat Venetien auch in der eigenen Region. Über Asiago hatten wir schon gesprochen und über Belluno sowieso, aber aus Venedigs Perspektive darf man das schon noch etwas vertiefen. «Fa show e dimentica Belluno» kommentiert die Bellunesische Lega Nord Exponentin Raffaela Bellot Renzis Auftritt in Treviso.  «Belluno autonoma nel Veneto indipendente!!»hallt da ein Zwischenruf auf Bellunopress. Was bleibt auch anderes übrig, nach dem wir Trentino/Südtiroler den Bellunesern die Regione Dolomiti verweigert haben. Aber das Belluneser Dasein im Venezianischen ist bestenfalls mit stiefmütterlich zu umschreiben. Mit dem sogenannten Articolo 15 wurde im Venzianischen Programm die Specificità delle singole comunità, dei territori montani e della Provincia di Belluno festgeschrieben. Der Artikel hat sich aber zum reinen Rohrkrepierer entwickelt, will meinen: er liegt in irgendeiner Schublade und hat zum Zorn der Belluneser bis heute nicht wirklich Anwendung gefunden. Venezianisches Autonomieverständnis. Wenigstens das der Lega.

Zum Unabhängigkeitsreferendum müssen aber auch Stimmen im Bellunesischen gesammelt werden, und so gehen die Leghisten Matteo Salvini und Flavio Tosi dieses Wochenende auf Tour durch die Provinz Belluno:

Ogni anno il Veneto regala 21 miliardi allo stato italiano ricevendo in cambio servizi da poco o niente. Quindi la voglia d’indipendenza è fondata ed è la speranza. Da una parte c’è l’indipendenza e dall’altro il centralismo.

Die haben wohl von der Brennerbasisdemokratie abgeschrieben. Täglich 57 Millionen pfutsch, nicht nur sechs wie bei uns, aber pro Nase sind das knapp zwölf tägliche Euro hier wie dort. Auf der Webseite der Referendumsinitiatoren wird dann auch visuell suggeriert, wohin die Gelder wohl fließen:Nach Kalabrien. Kann man es den Venezianern verübeln, dass sie auf Renzi sauer sind, ausgerechnet eine Kalabresin als Regionenministerin eingesetzt zu haben?

 

Nicht nachtragend ist der ehemalige Bürgermeister von Ponte nelle Alpi, Roger De Menech, Kammerabgeordneter und als Renziano seit wenigen Wochen Sekretär der Regionalen PD Venetiens und in dieser Schlüsselposition Hoffnungsträger der speraten Belluneser Autonomisten: «Nessun ministro? Dirò a Matteo che senza di noi l’Italia non può ripartire» gibt er mehr selbstüberschätzend als beruhigend von sich. «Difenderò il Veneto a Roma». Nun gut.

Den Leghisten Parole bietend startet De Menech dieses Wochenende, also zeitgleich mit der Lega Tour, eine Initiative in „seiner“ Region unter dem Motto Ri-partenza democratica, un progetto per il Pd in unVeneto che cambia und will damit die PD für die Regionalwahlen 2015 rüsten.

Il PD da solo in Veneto non sfonda. Il nostro partito deve uscire dai recinti classici della politica veneta ed avere la capacitá di dialogare con tutti i mondi della societá civile della nostra regione. Prima dobbiamo costruire le alleanze con i cittadini del Veneto, di conseguenza verranno naturalmente le alleanze con i partiti che condivideranno le nostre proposta programmatiche. Le esperienze del passato ci insegnano che non convinciamo il popolo veneto con delle alleanze improvvisate all'ultimo minuto, il nostro obbiettivo é di ri-tornare credibili, affidabili e autorevoli a tuti quei mondi che ci guardano con diffidenza e che oggi sono delusi dal centro destra leghista veneto. Tutto ció lo facciamo con la forza delle nostre proposte riformiste, che comprendono le necessitá del mondo produttivo, che prestano attenzione a tutte le realtá della variegata societá veneta.

Inpependenza klingt anders. Belluneser Autonomie auch. Kann schon sein, dass karrierebedingt Venezianische Identitätsgefühle die Belluneser Wurzeln überschatten. Letztere hört man gerade noch bei seiner Genugtuung über die Neuregelung des Fondo ODI heraus. In Sachen provinzautonomer Realpolitik bekommt De Menech von seiner PD Kollegin Irene Bertoletti aus Sondrio tatkräftige Unterstützung, in dem sie sich brüskiert, dass der Sondrinische Präsident (und Leghist) Massimo Sertori mit dem Belluneser BARD in Sachen Autonomie ihrer Provinzen den Schulterschluss sucht «chiede 100 per poter ottenere 70». Hier wie dort, es geht um parteipolitischen Geplänkel und nicht um die Sache. Es ist einfach nur jämmerlich. Fast werde ich ein bissel stolz darauf, dass wir Südtiroler unsere Autonomie durch Zusammenhalt erkämpft haben und der Sache dienlich über Jahrzehnte SVP anstatt plurale Demokratie gewählt haben. Im Veneto wird zwar pluraldemokratisch aber der Sache undienlich Lega kontra PD gespielt und PD kontra Lega. Parallelen zu unserer heutigen Parteienlandschaft dürfen gerne gezogen werden.

Nehmen wir einmal an, die Leghisten hätten mit ihrer Independenza Erfolg, und würden ohne A27 und A31 freistaatlich und frei ihren Platz in der Europäischen Geschichte finden. Dann wird es wohl auch Zeit sich über Friaul (ja, ja, das Julische Venetien selbstverständlich miteingeschlossen) Gedanken zu machen.

Zwar hatte Salto jüngst von Friulanischen Unabhängigkeitsträumen berichtet, aber seien wir doch ehrlich: Mit Nägel und Klauen verteidigen die Friulaner ihre Autonomie nicht gerade. Vor ein paar Jahr war da noch mehr Schwung drin. Der jungen Präsidentin Debora Serracchiani (PD) werden persönliche Karrierehoffnungen nachgesagt (jung, weiblich sucht Ministerposten) und sie scheint (mittlerweile) mit Renzi auf einer Linie: «Lo dico da presidente di una Regione che sta vivendo in prima persona la crisi: non è più tempo di un governo di servizi. Dobbiamo rispondere a chi ha paura e rabbia, velocemente e con capacità, per  risolvere i problemi delle personeund «non è il momento di creare nuove fibrillazioni [… ] Renzi […] la sua determinazione e il suo coraggio. Anche l'ambizione. Saranno utili e necessari al cambiamento profondo del Paese.»

Die anderen stehen derart stramm Gewehr bei Fuß, da konnte Serracchiani glatt nach Rom fahren und sich trotzdem sicher sein, dass die Daheimgebliebenen demokratisch der Abschaffung ihrer vier Provinzen (Pordenone, Udine, Gorizia, Triest) ohne Gefechte oder sonst welchen Rauch zustimmen. Sollte der Zwischenruf der Friulanischen Lega «stop al neocentralismo romano che soffoca la specialità» nicht unerwarteterweise mehr als nur ein widerhall- und fantasieloses Aufbäumen sein, könnte sich bei Erfolg der Venezianischen Sezessionsbewegung eine skurile Situation ergeben:

Ist es der Lohn der Getreuen, eine Italienische Enklave zu werden?