Bühne | Tanz Bozen

Moden und Haut

Zwei unlängst verstorbenen Ikonen ihrer Kunst widmete Bolzano Danza am Dienstag den Abend im Stadttheater. Von Gennaro Cimmino, Louise Bourgeois und ihren Tanzschritten.
Louise, Martin Zimmermann, Tanz Bozen
Foto: Admill Kuyler
  • Ob allein, im Paar oder in der Gruppe: Nicht nur dem Namen nach steht der Körper, als physisches Objekt, im Mittelpunkt, er ist auch eine Art sozialpolitisches Schlachtfeld für allerlei Zuschreibungen von außerhalb - jedenfalls in der Produktion des von Gennaro Cimmino in Neapel gegründeten „Produktionszentrum“ für zeitgenössischen Tanz. 

    Als Körper – Centro Nazionale di Produzione della Danza stellte die kreative Körperschaft den Anspruch unter die Haut zu gehen seit 2003 an sich selbst. Seit Ende 2024 müssen Anatomiestudien der Körper in Bewegung, allerdings ohne den bisherigen künstlerischen Leiter und Choreografen weiter gehen. Im Abendprogramm stehen ab halb sieben daher zwei Werke junger Tanzschrittmacher. Vor einer Pause von rund zehn Minuten war es „CLOUD“ von Giovanfrancesco Giannini) und anschließend ein Auszug vorab aus Adriano Bologninos „LAST MOVEMENT OF HOPE – Chapter II: Organi“.

    Zuvor sollte mit dem Solostück Cloud eine spannende Lektion in anschaulicher Weise gezeigt werden, wie ein anderer Körper nicht nur als harte Grenze, sondern auch als ein durchlässiger und durchdringbarer Raum erlebt werden kann, in welchen wir metaphorisch eintauchen. Dem männlichen Protagonisten unseres Stücks irgendwo zwischen Tanz, Theater, Kunstgeschichte, Poesie und Drag begegnen wir mit enger Unterhose bis über den Bauchnabel und mit einem Strumpf über dem Haar. Ein Laptop, gesteuert von einer Geistermaus bringt Inhalte aus dem Internet ins Dunkel der Studiobühne. Zu einem guten Teil betreibt der Tänzer dabei Mimesis.

     

    Horrorbilder von Folter und Mord und der homoerotischen Fitnesskult von Putin und Kadyrow 


    Giovanfrancesco Gianninis Cloud, das im Mai 2023 auf die Bühnen kam, befasst sich damit, in welchen Rollenbildern wir es gewohnt sind, Körper zu sehen und vom fast universellen Tabubruch – sogenanntes Bottom Shaming gibt es auch unter schwulen Männern ¬– sich als Mann im Schlafzimmer in der „nehmenden“ statt „gebenden“ Rolle wohler zu fühlen. Eine solche intime Beziehungspräferenz überlagert und vergleicht der Choreograf auch mit Bildern politischer Verfolgung homosexueller Männer, wie etwa in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. So kommt es, dass sich Horrorbilder von Folter und Mord mit dem homoerotischen Fitnesskult der „starken“ Männer Putin und des tschetschenischen Präsidenten Kadyrows "paaren". 

    Dass das für so gut wie jeden und jede im Saal unangenehm und befremdlich sein dürfte, ist klar. Etwas lockert sich diese Anspannung allerdings spätestens mit dem Erscheinen des bekannten „Gay Clown Putin“ als Teil der Projektion auf, wo auch einige Lacher zu hören sind, die als Gegengewicht zur Gewaltdarstellung wirken.

  • Synchronsingen: Auch das sogenannte Lip Sync gehört ins Repertoire der meisten Dragshows. Der Tänzer bewegte in einer Szene zwar nicht den Mund, dafür aber den Körper im Takt und Pathos einer Chansoniere. Foto: Andrea Macchia

    Daraufhin nimmt das Stück eine Wende: Unser Tänzer zielt nicht mehr mit imaginärem Gewehr auf projizierte Gefangene, er geht über zur Einnahme verschiedener Posen aus der Kunstgeschichte weiblicher Aktdarstellungen, von der Geburt der Venus bis zur Olympia Manets. 

    Die eigene Männlichkeit – die Unterhose hat ihren Zweck vorerst erfüllt – verschwindet zwischen oder hinter den Beinen aus dem Bild. Bevor es allerdings noch weiter in Richtung Drag gehen könnte, bekommen wir einen Auszug aus Pier Paolo Pasolinis Dokumentarfilm „Comizi d’amore“ von 1964 zu sehen. Pasolini hatte sich zu jener Zeit interessiert, wie im Stiefelstaat zu jener Zeit über Themen wie Homosexualität, Scheidung oder etwa Prostitution gedacht wurde und holte sich dafür etliche Interviewpartner vor die Linse. Einer von ihnen ist, zum Zeitpunkt der Aufnahme Mitte 70, der Poet Giuseppe Ungaretti. Gibt es Normalität und Abnormalität in Sachen Sexualität? Während das Strandinterview auch in seiner Gänze spannend ist, ließe sich der Kern seiner Aussage so verdichten: Wer ist schon normal?

     

    Wir werden nackt geboren, der Rest ist Drag.



    Das Finale von Cloud führt uns in den Backstage-Bereich einer Dragshow, denn frei nach dem Motto der wohl zumindest finanziell erfolgreichsten Dragqueen des Planeten, RuPaul werden wir nackt geboren, der Rest sei Drag. Die Strumpfhose am Kopf unseres Tänzers finden wir in den Videos der Königinnen für eine Nacht wieder, die sich noch nicht für eine Perücke entschieden haben. Der Kreis schließt sich auf der Haut unseres Protagonisten, die in den letzten Zügen noch zur Kinoleinwand des Projektors wird.

  • Adriano Bologninos „LAST MOVEMENT OF HOPE – Chapter II: Organi” nahm sich trotz eines ausladenden Titels, nach der Pause weniger Zeit. Auf die dichte „Wolke“ folgte eine eng getaktete Paarchoreografie für zwei Tänzerinnen, die technisch anspruchsvoll und emotional berührend, in ihrem Minimalismus allerdings auch deutlich abstrakter bleiben sollte als Clouds. Anfänglich außerordentlich behutsam spiegeln die beiden Tänzerinnen die Bewegung der jeweils anderen, eine Beschleunigung und weitere Annäherung aneinander sind zu erahnen, bevor die Sinuswelle an den Ausgangspunkt zurückkehrt und die dramatische Streichermusik, welche manche an Max Richter erinnern mag, abebbt.

  • Organi: Mal schnell, mal langsam und dabei immer zärtlich machte in Adriano Bologninos Choreografie die Hoffnung ihre letzten Regungen. Foto: Andrea Macchia
  • Wer nach letzterem Amuse-Gueule immer noch tanzhungrig war, der hatte ab halb neun Gelegenheit, dem Geschehen auf der großen Bühne zu folgen. Dort huldigte Martin Zimmerman mit mit seiner Hommage „Louise“  der 2010 fast hundertjährig verstorbenen Künstlerin Louise Bourgeois. Der Skulpteurin und Pionierin in Sachen Kunstinstallationen setzte man auf der Bühne ein quietschbuntes Denkmal. 

     

    Dort watschelten und stolperten die Darstellerinnen vorab wie Pinguine von einer Umarmung zur nächsten.

     

    Angefangen bei den clownhaften Interaktionen mit dem Publikum vor Vorstellungsbeginn zeigte man viel Licht und wenig Schatten, auch wenn diese ersten Kostüme ganz in schwarz gehalten waren. Mit hinter einer verschlossenen Kapuze verborgenen Gesichtern und Körpern in unförmigen Overalls wirkte man allerdings keineswegs düster im mit Saallicht ausgeleuchteten Publikumsbereich. Dort watschelten und stolperten die Darstellerinnen vorab wie Pinguine von einer Umarmung zur nächsten. Für alle im Theater kontaktscheuen Personen sollte übrigens auch noch eine anfänglich verhalten aufgenommene Aufforderung zum Mitsingen eines Refrains folgen.
    Slapstick und die annähernd dadaistische Kommunikation zwischen den vier ausgesprochen unterschiedlichen Tänzerinnen taten ihr Übriges für den Ton des Abends. 

    Denke ich persönlich an Bourgeois, so sind es dunklere Motive, die mir einfallen, wie auch ein verstärkt psychoanalytischer als absurder Blick. Die große Bühne hat mit ihren drehbaren Bodenelementen, Leitern und Stühlen etwas von einem großen Puppenhaus.

  • Louise: In schrillen Kostümen und mit quietschigen Stimmen, die an Kinderanimationsfilme denken lassen, trat Martin Zimmermanns Stück in seinen rund 75 Minuten Dauer manchmal am Fleck. Foto: Admill Kuyler
  • Der Verweis auf die Kindheit und das Kindliche, das durch den ganzen Abend geht, wirkt eskapistisch, persönlich stelle ich mir die Kindheit einer späteren Künstlerin zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aber mehr als eine stille Migration nach innen vor. Ihre ersten Skulpturen formte Louise Bourgeois in der Kindheit aus Brot, um mental der Schelte des Vaters zu entfliehen. Vater und Mutter wurden indes wiederkehrende Motive im langen Schaffen der Künstlerin, Geister, die sie versucht auszutreiben.

    Bis zum Schlussdrittel bleibt man diesen „Horror“ schuldig. Als Motiv, das wir aus dem Horrorkino kennen, werden von den vier Tänzerinnen, die den Abend in Masken beenden, diese verkehrt herum aufgesetzt. Während ihr Körper von uns abgewandt ist, blickt das Gesicht von Louise Bourgeois für einen der visuell stärksten Momente des Abends weiter zu uns. Schade, dass alles andere darum herum zu bunt war.

  • Bolzano Danza Tanz Bozen endet heute mit einer Mischung von HipHop und Electro Dance der Gruppe MazelFreten und deren „Rave Lucid“, der die Tänzerinnen und Tänzer heute zu ihrem ersten Gastspiel in Italien führt.