Politik | Gegen Flüchtlinge

Barrikaden in Gorino

Wie kommt es zu solchen Fällen verweigerter Empathie wie in Gorino? Schaut man sich ähnliche Fälle an, zeigt sich ein Muster.
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Foto: Facebook
Aus einem kleinen Ort im Po-Delta kommt die Nachricht vom Aufstand eines Dorfes gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Was weder in Italien noch in Europa ein Einzelfall ist. Ich nähere mich ihm auf einem Umweg: über ein bosnisches Dorf, dessen Geschichte ich persönlich kenne und das 1993 zum Schauplatz einer ethnischen Vertreibung wurde.

Visici in Bosnien, Sommer 1993: Zerstörung einer Gemeinschaft

Während der Kriege, welche die Auflösung des ehemaligen Jugoslawien begleiteten, möchte der kroatische Staatspräsident Tudjman die bosnischen Kroaten (katholischen Glaubens) in die Herzegowina umsiedeln, um sie später in ein zukünftiges Großkroatien zu integrieren. Dafür mussten aus diesem Gebiet die Muslime („Bosniaken“) vertrieben werden. Visici ist ein Dorf in der bosnischen Herzegowina, in dem die kroatische Mehrheit seit Jahrhunderten friedlich mit einer bosniakischen (muslimischen) Minderheit zusammenlebt. Im Sommer 93 verbreitet sich unter den Kroaten das Gerücht, in anderen Orten der Herzegowina hätten Muslime Gräueltaten begangen, so etwas könne demnächst auch hier geschehen. Die Kroaten beraten sich in der Dorfkirche. Ergebnis: Alle waffenfähigen muslimischen Männer werden nachts aus ihren Betten in Lager verbracht, die dörfliche Moschee wird in die Luft gesprengt. Kein Muslim wird gewarnt, obwohl es hier längst religionsübergreifende Freundschaften und Ehen gibt, die kroatische Gemeinschaft hält „dicht“. Am Tag nach der Aktion veranstaltet sie eine der in dieser Jahreszeit üblichen Grillparties. Als ob nichts geschehen war.

Clausnitz in Sachsen, Februar 2016: gesundes Volksempfinden

Im Dorf mit 870 Einwohnern sollen erstmals 15 Flüchtlinge aus dem Iran, dem Libanon und aus Syrien in eine dafür bereitgestellte Unterkunft einziehen. Schon im Vorfeld kommt es auf Bürgertreffs zu Unmutsäußerungen – Teile Sachsens sind Pegida-Land. Als am frühen Abend des 18. Februar der Bus mit den Flüchtlingen kommt, erwarten sie vor der Unterkunft ca. 40 Demonstranten, aus denen im Laufe des Abends 100 werden. Sie blockieren den Eingang, brüllen ausländerfeindliche Parolen und, natürlich, „Wir sind das Volk“. Der wartende Heimleiter, AfD-Mitglied, hatte bereits auf einer Kundgebung vor dem „ungezügelten hundertausendfachen Einmarsch von Wirtschaftsflüchtlingen“ gewarnt, die Europa schwächen sollten, im Bunde mit den USA und einer „obersten Regierung, die absichtlich gegen Deutschland und deren Einwohner arbeitet“ (Spiegel online, 21. 2. 16). Da anfangs kaum Polizei da ist, wagen sich die Flüchtlinge 2 Stunden lang nicht aus dem Bus, während ihnen die Demonstranten immer bedrohlicher zu Leibe rücken. Auf Videos sieht man weinende und in Panik geratene Insassen. Als schließlich mehr Polizei anrückt, werden die Flüchtlinge in die Unterkunft geleitet – ein kleiner Junge, der sich nicht aus dem Bus wagen will, unter körperlichem Zwang, was der Mob bejubelt. Anschließend behauptet die Polizei, die Flüchtlinge hätten die Demonstranten „provoziert“, z. B. den Stinkefinger gezeigt.

Goro bei Ferrara, Ende Oktober 2016: eine „neue Resistenza“
In der Gemeinde trifft am 24. Oktober die Nachricht ein, dass noch am gleichen Abend eine Gruppe afrikanischer Flüchtlinge im Ortsteil Gorino ankommt, wo sie bis auf weiteres in einer Herberge wohnen sollen, die ihnen der Präfekt zugeteilt hatte. In der Gemeinde, die bisher keinen einzigen Flüchtling aufgenommen hat, ist die Lega stark – sie hat die Parole ausgegeben, sich solchen Einquartierungen zu widersetzen. Die Stimmung ist aufgeheizt: Die Entscheidung des Präfekten sei über die Köpfe der Bürger hinweg gefallen; sie vertreibe Touristen; in der Herberge befinde sich die einzige Bar, die für den Ortsteil ein wichtiger Treffpunkt sei. Außerdem seien die Neuankömmlinge nur die Vorhut einer Invasion, der man sich sofort entgegenstellen müsse, bevor alle Dämme brechen. Auf den Zufahrtsstraßen entstehen Barrikaden, um die erwarteten zwei Busse an der Zufahrt zu hindern. Fast die Hälfte der 700 Bewohner des Ortsteils beteiligt sich, der Konflikt wird zum Medienereignis. Als Carabinieri erscheinen, um mit den Blockierern zu verhandeln und der Maresciallo argumentiert, dass es sich doch nur (!) um 12 Frauen mit Kindern handele und eine der Frauen im achten Monat schwanger sei, lautet die Antwort: „Das kümmert uns einen Scheißdreck. Soll doch der Präfekt die Schwangere mit nach Haus nehmen“. Die Blockierer jubeln, die Carabinieri müssen unverrichteter Dinge wieder abziehen. Der Präfekt kapituliert und lässt die 20 Flüchtlinge in anderen Orten fahren. Die Dorfbewohner feiern ihren Erfolg, die Blockade wird zur Grillparty. Die Lega von Ferrara erklärt die Bürger von Gorino zu „Helden der neuen Resistenza gegen die Willkommensdiktatur“ (die „alte“ Resistenza kämpfte gegen Faschisten und deutsche Besatzer). Lega-Chef Salvini twittert Solidarität: So sollen sich die Bürger überall verhalten.

Das Verschwinden der Empathie

Was den drei Fällen gemeinsam ist, ist das anscheinend spurlose Verschwinden der Empathie: In Visici zwischen den Dörflern, deren Familien seit Generationen zusammenleben. In Clausnitz gegenüber Fremden, die schutzlos, verängstigt und weinend im belagerten Bus sitzen. In Gorino, wo nicht einmal die Tatsache, dass es nur Frauen und Kinder sind, zu denen auch eine Schwangere gehört, die Blockierer zum Innehalten bringt.
Für die heutige Gehirnforschung gehört die Fähigkeit zur Empathie zur menschlichen Grundausstattung. Dass sie trotzdem so leicht außer Kraft zu setzen ist, auch im Kollektiv, scheint schwer begreiflich. Es bedarf der Erklärung. Die drei Fälle zeigen ein Grundmuster:

Erstens fühlt man sich selbst als (zumindest potenzielles) Opfer – oder biegt sich die Realität entsprechend zurecht: Wir sollen massakriert oder zumindest islamisiert werden, uns sollen Arbeitsplätze weggenommen werden usw. Hinzu kommen Verschwörungstheorien: Die Amerikaner wollen Nordafrika destabilisieren, um uns zu schwächen; die Flüchtlinge sind die Vorhut einer längst geplanten Invasion usw.

Zweitens müssen aus den Flüchtlingen Täter gemacht werden. Sie planen eine Invasion, sie wollen in unsere Sozialsysteme einwandern, sie sind Abgesandte des IS. Da die Flüchtlinge normale Menschen sind wie du und ich, wenn auch oft mit schrecklichem Schicksal, finden sich für jede Behauptung auch Beispiele. Verallgemeinert man sie zur absoluten Wahrheit, erscheint Empathie als naiv-fahrlässige Eselei, als „Gutmenschentum“.

Die Feste der Sieger
Drittens die Grillparties, die in zwei unserer drei Fälle eine Rolle spielen. Ich denke, sie sind kein Zufall. Wenn Empathie „natürlich“ ist, muss ihre kollektive Verweigerung bewältigt werden. Die Kroaten von Visici veranstalten am Tag nach dem Abtransport der Muslime eine Party. Die Bewohner von Gorino verwandeln die blockierten Straßen nach dem Sieg in Grillmeilen. Nur aus Zynismus? Natürlich ahnen viele Beteiligte, dass die verbarrikadierten Straßen ein zivilisatorischer Bruch sind, ein Rückfall auch hinter das eigene Wertempfinden. Die gemeinsame Grillparty ist die Kompensation: Sie ist der umso engere Schulterschluss derer, die dieser Bruch nun zu Komplizen gemacht hat. Seht her, andere verjagen wir, aber bei uns gibt es Treue, Freundschaft, Zusammenhalt. Dies ist die „Heimat“, die wir verteidigen. Hak mich unter, Kumpel, gegen alles Fremde, das sich hier hineindrängen will.

Nachtrag: In den italienischen Medien werden die Ereignisse von Gorino heftig diskutiert. Ezio Mauro von der „Repubblica“ schrieb einen Kommentar, der die Rebellion von Gorino mit der desolaten Lage in der italienischen Peripherie erklärt. Aus Deutschland wissen wir, dass diese Erklärung immerhin eine Teilwahrheit enthält (zu der allerdings die Grillparty nicht so recht passen will). Ihre Zweischneidigkeit besteht darin, dass sie sich selbst in das Opfermuster fügt: Dass ich Flüchtlinge verjage, zeigt ja nur, wie dreckig es mir geht.