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Corso Libertà

Zur Entstehung und Matrix eines Bozner Boulevards: Teil 1 des Gastbeitrags von Hannes Obermair zur Neuerscheinung "Lavori in corso - Die Bozner Freiheitsstraße".
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Foto: Die Zeitfabrik

Die Freiheitsstraße – ein schöner Name. Die Benennung verheißt ein Grundprinzip konstitutioneller Republiken und repräsentativer Demokratien, wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 unübertroffen ausgeführt („Life, Liberty and the pursuit of Happiness“) und in der Präambel der französischen „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“ von 1789 als Mitte und Fluchtpunkt staatsbürgerlicher Rechte festgehalten.  Aber natürlich schwingt in dem Bozner Straßennamen ganz zentral das Moment der Befreiung von 20 Jahren faschistischer und nationalsozialistischer Herrschaft mit – was ihn zusätzlich adelt.

Entstanden als neoimperiale Magistrale der faschistischen Diktatur, baulich aufgeladen mit unübersehbaren Zeichen chauvinistischer Großmannssucht, ist die Achse der Freiheit seit 1945 zu einer stillen Ikone des urbanen Bozens aufgerückt, die sich wie ein mächtiger Menschenkanal zwischen verwinkelte Altstadt, Talferbrücke und den ehemals ländlichen, heute so üppigen Grieser Platz mit seiner gentrifizierten Wohnumgebung schiebt. Die Gleichzeitigkeit von klar lesbaren baulichen Zeitschichten, ihre mitunter kontradiktorischen Elemente, das Passagenhafte der überdimensionalen Arkaden (die sich sanft abschwingen und niederer werden, je näher man an das „alte“ Gries heranrückt), die fein kalkulierten Brüche der Fassaden, aber auch das halb Herabgekommene mancher Teile der Straße – dieses fraktale Setting ist nirgends so deutlich in Südtirols Landeshauptstadt zu finden wie am Corso, der zu einer Kultur des Gehens und Betrachtens geradezu auffordert. Dem aufmerksamen „Flaneur“, so wie ihn Walter Benjamin beschrieben hat, fallen dabei wie von selbst Beobachtungen zu, die tief in den Sozialcharakter einer Stadt und eines Landes hineinführen, und die doch hier einen partikulären Ort vorfinden, der sich nicht einfach woanders wiederholt. Benjamin sprach in diesem Zusammenhang – im Jahr 1940, kurz vor dem von ihm gewählten Freitod, um auf der Flucht den nationalsozialistischen Schergen nicht in die Hände zu fallen – von „Stadtschaft“, die sich selbstbewusst der „Landschaft“ entgegensetze und den modernen gebauten städtischen Raum zum „eigentlich heilige(n) Boden der flânerie“ erhebe.

Eine weitere Beobachtung, Ausgangspunkt dieses Buches: Die monumentalste Straße Bozens ist, im schrillen Gegensatz zu ihrer avenuehaften Erscheinung, mit einem merkwürdigen Bann belegt. Sie ist beinahe eine „Straße ohne Erinnerung“, um auf Siegfried Kracauers großartige Diagnose der urbanen „Stummheit“ zurückzugreifen – unter diese nüchterne Begrifflichkeit stellte der deutsche Journalist und Soziologe, der sich 1933 mit seiner Frau vor den Nazis zunächst ins Pariser Exil und dann in die USA retten konnte, die psychische Befindlichkeit der Subjekte im Kommunikationsraum der modernen Straße. Das „Damals“ und „Dort“ von deren Genese seien zwar ständig anwesend und damit auf unbestimmte Weise konditionierend, aber stets nur unbewusst vorhanden und zugleich von niemandem erzählt. Dies gilt wohl besonders für den autoritären Stadtraum, wie ihn die europäischen Diktaturen hervorgebracht haben. Unter demokratischen Bedingungen unterliegt er einer naturwüchsigen und unablässigen Erosion seiner originären Bedeutungen und wird von emanzipierten Menschen auf alltägliche Weise repolitisiert. Und doch war der Bozner Corso wichtigster Integrations- und Verschmelzungsraum für eine weitgehend italienischsprachige städtische Gemeinschaft, die in der Zwischenkriegszeit, aber auch nach 1945 in den Norden verpflanzt wurde und erst mühsam eine soziale und kulturelle Verwebung erringen musste. Bestimmend für die neue urbane Identität waren Momente des Prekären, aber auch Aushandlungsprozesse im Verhältnis zum „Anderen“, auf das man auf Schritt und Tritt stieß.

Vor diesem Hintergrund versucht die Publikation der Fabbrica del tempo-Zeitfabrik, eine zugleich so präsente wie vergessene Prachtstraße Bozens als eigenständigen Erkenntnisgegenstand zu würdigen und auf erinnerungskulturelle Weise in das historische Gedächtnis zurückzurufen. Die Ansätze gehen dabei von der Überzeugung aus, dass gerade die besondere, weitgehend sich selbst überlassene Intensität dieser Bozner Stadtlandschaft ihrer Wahrnehmung und Aufarbeitung eher im Wege gestanden als diese befördert hat. Die historische Selbstvergessenheit ist hier gleichsam zur zweiten Natur geworden, durchaus entgegen den ursprünglichen Intentionen der Architektur, aber damit auch von unsichtbarer und opaker Gestalt. Gerade deswegen lohnt es sich, den Corso – in stadtsoziologischer Absicht – als eigenständiges gebautes und grafisches Bild in den Blick zu nehmen und seinem besonderen Habitus nachzuspüren.

Unsere Fragen sind hier also semiotischer Art: Gibt es womöglich eine verborgene Eigenlogik solcher Architektur, eine kollektive kulturelle Strömung und damit verbundene Reproduktionsgesetzlichkeiten, gar einen besonderen Mix von Ökonomie und Sozialstruktur des Boulevards? Diesen Potentialen möchten die Beiträge des Bandes aus unterschiedlichen Blickwinkeln nachgehen und dabei originelle Perspektivierungen einschlagen. Die nachfolgenden Ausführungen verfolgen dagegen eine weitgehend genealogisch-historische Argumentationslinie, die die Freiheitsstraße als urbane Textur vor allem in ihren Anfängen betrachtet. Auch die Zeitungen der Entstehungsjahre bieten dabei aufschlussreiche, wiewohl kritisch zu lesende Kommentare, deren Quellenwert zudem noch kaum erkannt worden ist.

 

Eine antike Münze – urbane Landschaft von Bedeutung

Die faschistische Parteizeitung La Provincia di Bolzano, ihr Name deckte sich in durchaus programmatischer Absicht mit der Anfang 1927 eingerichteten Provinz Bozen, brachte am 9. Juni 1937 einen geradezu sensationell anmutenden Bericht. Der Präfekt Bozens, Giuseppe Mastromattei, höchster Verwaltungsbeamter Roms in der gerade zehn Jahre alten neuen Provinz, habe dem örtlichen Stadtmuseum eine römische Münze für dessen Sammlungen übergeben, die bei den Grabungen zum Bau des „Corso IX Maggio“ gefunden worden sei – und zwar unmittelbar neben dem Areal des Bozner Siegesdenkmals. Das Fundstück stamme noch aus der Zeit Kaiser Hadrians, und zeige am Avers den Jupiterkopf mit Lorbeerkranz, auf seinem Revers die geflügelte Siegesgöttin. Dies sei von besonderer symbolischer Bedeutung und von einer Sinnfälligkeit, der sich wohl niemand entziehen könne. Der überaus effiziente Präfekt, der die Geschicke der Provinz Bozen von 1933 bis 1940 leitete, spielte damit ganz unverhohlen auf das 1926/28 errichtete „Monumento alla Vittoria“ an, das der römische Stararchitekt Marcello Piacentini – auf direktes Geheiß von Diktator Mussolini – mit den Insignien des italienischen Sieges versehen hatte: Eine Nikefigur, von Arturo Dazzi geschaffen, thront an der der Altstadt zugewandten Stirnseite des Monuments, und die lateinische Inschrift zu ihren Füßen verkündet mit ihrer herablassenden Pathosformel „Hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus“ (‚Von hier aus erzogen wir den Rest sprachlich, rechtlich, künstlerisch‘) eine Art Zivilisationsgrenze zwischen barbarischem Norden und kultiviertem Süden. Im Denkmalinneren umstehen die Büsten der Trentiner „Märtyrer“ Cesare Battisti, Fabio Filzi und Damiano Chiesa einen echten Altar, aus dem Libero Andreottis Christusfigur emporwächst und damit den Ort nachhaltig sakralisiert – das klerikal-faschistische Golgotha Bozens heiligte gleichsam den Boden, dem wenig später die hadrianische Münze entspringen würde.

Hadrians Prinzipat zählte bekanntlich zu den glanzvollsten Epochen römisch-imperialer Machtentfaltung. Es berief sich programmatisch immer wieder auf die augusteische Epoche und rekurrierte damit auf ein staatspolitisches Programm, dessen vom Faschismus reaktivierter Ursprungsmythos auch auf dem Siegesplatz mit seinen Hausinschriften wiederkehrt. Von dem ehemals an der südseitigen Häuserfront des Platzes angebrachten „Alme-sol“-Gedicht von Horaz kündet heute nur noch, neben den dem wissenden Blick nicht gänzlich verborgenen Abdrücken auf dem grauen Stein, die Horazstraße. Inbegriff der römischen Staatslyrik, kam dem ursprünglichen, nach 1945 abgenommenen Text „O milde Sonne, mögest du nichts Größeres schauen als die Stadt Rom“ vor allem eine Funktion in der Mitte des neuen Bozens zu: Es sollte die historische Mission des faschistischen Italiens vom imperialen Erbe des antiken Roms herleiten und mit dieser fiktiven Kontinuität der Herrschaft Mussolinis kulturelle Legitimität verleihen. Das horazische Zitat prangte auch am sog. Fileni-Triumphbogen an der ehemaligen Via Balbia, einer küstennahen Fernstraße im italienisch besetzten Libyen, ehe es nach der Kapitulation der Achsenmächte in Nordafrika 1943 samt seinem Monument von den Alliierten niedergelegt wurde. Der apologetische Kontext von Horaz‘ „Carmen saeculare“ und dessen Missbrauch durch den Faschismus dürften auch seine Beseitigung in Bozens Nachkriegszeit erklären.

 

Erstaunlicher Weise ist hingegen das Vergil-Zitat am gegenüberliegenden Gebäudegiebel bis zum heutigen Tag erhalten geblieben. Es ist aus der „Aeneis“ genommen, dem Großepos der augusteischen Zeit, jener Epoche, der der italienische Faschismus 1937/38 im römischen Palazzo delle Esposizioni die monumentale „Mostra Augustea della Romanità“ widmete. Das Regime ließ damit seine eigene Größe – als glanzvolle Wiederholung einer machtgestützten imperialen Kriegs- und Friedensordnung im Mittelmeerraum – propagandistisch feiern und überhöhen. Mussolini als moderner Augustus, das war der Subtext auch des Zitats in der heutigen Freiheitsstraße. Die Verse 6.847–853 der Äneide („Tu regere imperio populos, Romane, memento…“) – von Vergil dem unterweltlichen Anchises, Vater des Aeneas, in den Mund gelegt – beschworen die Größe Roms und dessen imperialen Herrschaftsauftrag, die in der faschistischen Ära und ihrer neuen Zeitrechnung nur neu konkretisiert wurden.

Solche öffentliche Inszenierung und legitimatorische Aufladung im Zeichen eines liktorischen „Dritten Roms“ machte die Bauten zur Staatsarchitektur, nicht unähnlich vergleichbaren Bauleistungen etwa in Rom („Via della Conciliazione“ zur Verherrlichung der Lateranverträge von 1929 und „Via dei Fori Imperiali” in den Kaiserforen), in Brescia („Piazza della Vittoria“) oder in Mailand („Piazza San Babila“). Nur handelte es sich in Bozen um eine kleine Provinzhauptstadt, und schon dies macht deutlich, wie wichtig das hier ins Werk gesetzte Bauprogramm im Selbstverständnis der Akteure war. Es sind gebaute politische Verhältnisse, und es waren auch dieselben Architekten wie in den großen Zentren, die für die Bozner Projekte verantwortlich zeichneten und an deren Realisierung mitwirkten.

 

Stadtbranding neu – Arkaden für Riesen

An erster Stelle ist hier der bereits erwähnte Architekt Piacentini zu nennen, Mastermind der Planungen für das neue Groß-Bozen. Auf seine Bebauungspläne von 1933/35 ging auch die Anlage des „Corso IX Maggio“ – so der ursprüngliche Name des Boulevards, der nur ganz kurzfristig zunächst „Corso Littorio“ hieß – zurück. Ab 1936 wurde die Schneise in die Reb- und Wiesengründe der ehemaligen Grieser Marktgemeinde gelegt. Gries war zur Jahreswende 1925/26 nach Bozen eingemeindet worden, nicht ohne Zwang, um jenen städtebaulichen Expansionsraum zu gewinnen, der strahlenförmig vom Monument des italienischen Sieges aus neu geordnet und überbaut werden sollte. Wenn man sich die von Piacentini entworfenen Baumodelle des „Siegesforums“, Startpunkt und Machtraum der heutigen Freiheitsstraße, genauer anschaut, so wird rasch bewusst, dass es sich gezielt um eine Architektur des Unbedingten und der Disziplinierung handelte. Es wiederholt sich jener Gestus des Raumgreifenden und Herrschaftlichen, der etwa den Prospekten des stalinistischen Bauprogramms in Moskau – dort in das schier Unermessliche gesteigert – eigen ist. In ihrer finalen Absicht hebt solche Baugesinnung die eigenständigen Identitäten von Gruppen und Individuen auf und versucht sie zu einem amorphen und beherrschbaren Ganzen einzuschmelzen.

Dieses Branding der Überwältigung durch Architektur setzte sich geradezu programmatisch dem alten Stadtraum mit seinen nach menschlichem Maß gestalteten Lauben und den funktionalen Platzausbrüchen entgegen. Die Arkaden des Siegesplatzes und des Corso wirken wie für Riesen gebaut, den dazu passenden neuen Menschentypus musste man allerdings erst noch schaffen. Die hypertrophe Baugestalt des Platzgeländes rund um das Monument sowie der Kopfbauten der Freiheitsstraße bildet die Radikalisierung der faschistischen Herrschaftspraxis um 1935/36 nachgerade ab. Die totalitäre Wende Italiens vollzog sich vor dem Hintergrund von Abessinien- und Spanienkrieg und wurde von Mussolini selbst für seine beabsichtigte „anthropologische Revolution“ in Anspruch genommen. Was in Italien, und in Bozen, ab dieser Zeit gebaut wurde, war als das Behältnis eines imaginierten homogenen Volksstaats mit deutlich rassistischen und imperialistischen Zügen konzipiert. Diesem Volk mit neuem Format und von überlegener Konstitution sollte auch der seinem Rang gemäße architektonische Rahmen verschafft und zugewiesen werden.


Der Straßenname „Neunter Mai“ nahm denn auch auf die Ausrufung des italienischen Imperiums durch Mussolini ausdrücklich Bezug. Vom Balkon des Palazzo Venezia, dem römischen Zentrum der Macht, hatte er am 9. Mai 1936 der begeisterten Menschenmasse den politischen Quantensprung verkündet. Vor „der Nation und der Welt“ rief der Diktator den savoyischen König Viktor Emanuel III. zum „Kaiser von Äthiopien“ aus, und ernannte nebenbei noch die hohen Militärs Pietro Badoglio und Rodolfo Graziani – beide verantwortlich für den Völkermord in Libyen sowie den Giftgaseinsatz und die Massaker in Äthiopien – zum äthiopischen Vizekönig respektive zum Marschall von Italien. Bozens Tageszeitung Dolomiten, herausgegeben von der vom Journalisten und Priester Michael Gamper geleiteten Verlagsanstalt Athesia (vormals Tyrolia bzw. Vogelweider), sekundierte mit ihrem emphatischen Aufmacher vom 11. Mai 1936 und schreckte dabei vor gesteigerter Begeisterungsprosa nicht zurück: „Rom und Italien sind wieder kaiserlich. Möge alles, was am alten, universalen Rom wahrhaft gut, groß und schön war, verjüngt und segenbringend wieder auferstehen!“

Über 16.000 Zuhörer und Zuhörerinnen, vermeldete die faschistische Parteizeitung La Provincia di Bolzano, hätten der Rede Mussolinis, von Lautsprechern übertragen, auch auf dem ehemaligen Waltherplatz – nunmehr „Piazza Vittorio Emanuele“ – andächtig gelauscht. Der im Bau befindliche Corso wurde bald hernach dem neuen Staatsfeiertag des 9. Mai dediziert, der nach dem Tabula-rasa-Prinzip des Reißbretts erst ausgesteckte mittige Platz (heutiger Mazziniplatz) zur „Piazza IX Maggio“ bzw. „Piazza Impero“ erhoben. Damit war das expansionistische Programm in die neue Planstadt jenseits der Talfer unübersehbar eingeschrieben. Der urbane Erinnerungsraum Bozens wurde symbol- und namenspolitisch in die kolonialistischen Vorhaben des Regimes eingegliedert und Bühne einer Ermächtigungspolitik, die mit ihren militärischen Aggressionen unverhohlen auf die Schaffung eines neuen Großreichs im Mittelmeerraum abzielte.


Teil 2 am 4.12., Salto Afternoon