Chronik | Bergtragödie

„Im Whiteout hast du keine Chance“

Reinhold Messner über das Drama in den Schweizer Alpen, die absolute Orientierungslosigkeit am Berg und der Wärmeschub kurz vor dem Tod.
Reinhold Messner
Foto: Südtirolfoto/Othmar Seehauser
Salto.bz: Drei Tote in den Schweizer Alpen, drei Schwerverletzte im Zillertal: Die Bilanz des vergangenen Wochenendes. Warum passieren vor allem im späten Frühjahr immer wieder solche schweren Bergunfälle?
 
Reinhold Messner: Wir sind am Ende der Wintersaison. Das heißt die hohen Skitouren gehen jetzt gut. Es sind damit überall auf den Bergen viele Menschen unterwegs. Auch am Antelao ist dieses Wochenende ein tödliches Unglück passiert. Wir bewegen uns am Berg im gefährlichen Bereich, da kommt es früher oder später einfach zu solchen Vorfällen. Solange Menschen auf die Berge steigen, wird es auch solche Unglücke geben. Es ist einfach gefährlich in der großen Höhe.
 
Können Sie nachvollziehen, was im Gebiet des Pigne d'Arolla im Schweizerischen Wallis Sonntagnacht passiert ist?
 
Die Menschen sind ganz einfach ins Whiteout gekommen. Es gab einen Schneesturm und große Kälte. Wenn du dann im Schneesturm stehen blieben musst, weil du nichts mehr siehst, dann wird es gefährlich. Dann kühlst du sehr schnell aus. Die Kälte plus der Wind kühlen dich aus. Und das ist das Ende. Ob dann da oben Fehler gemacht wurden oder nicht, das ist dann völlig irrelevant. So dürfte es passiert sein.
 
Haben Sich die Skitourengeher überschätzt?
 
Nein, das glaube ich nicht. Das ist ja eine klassische Route von Chamonix nach Zermatt. Da gehen jedes Jahr zehntausende Leute. Das waren - was ich gehört habe - alles ordentliche und gut ausgebildete Bergsteiger. Der Bergführer hat verzweifelt die Hütte gesucht und ist dabei abgestürzt. Es ist nicht leicht, sich da hinein zu versetzen. Ich habe das alles erlebt. Zum Beispiel am Mansalu, wo ich über viele, viele Stunden im Whiteout war. Wenn sich da jemand aufgibt und sagt, ich laufe andauernd im Kreis und sich dann hinhockt, dann ist es sehr, sehr schnell vorbei.
 
Das heißt man sieht wirklich nichts mehr?
 
In diesem Nebel verlierst du völlig die Orientierung. Das glauben die Leute nicht, bevor sie nicht selber darin herumtappen. Wenn du auf der Seiser Alm ins Whiteout fällst, dann rennst du herum und findest überhaupt nichts mehr. Obwohl da oben ja eine jede Menge Hütten stehen.
Wenn du einmal im Whiteout steckst, dann reichen 100 Meter um absolut verloren zu sein. Dann ist diese Distanz unendlich.
Ist es nicht absurd, dass man 100 Meter von einer Schutzhütte weg stirbt. Mit Handy und GPS im Rücksack?
 
Nein. Das ist möglich. Das versteht man gut, wenn man die Situation einmal erlebt hat. Solang du unten bleibst und sagst, bleiben wir auf der Hütte und gehen wir morgen weiter oder du bist rechtzeitig bei Sicht noch in die Nähe der Schutzhütte gekommen, ist das alles kein Problem. Aber wenn du einmal im Whiteout steckst, dann reichen 100 Meter um absolut verloren zu sein. Dann ist diese Distanz unendlich.
 

Die einzige Möglichkeit zu Überleben wäre sich dauernd zu bewegen?
 
Ja, das wäre die Möglichkeit. Aber früher oder später geht dir die Energie aus. Und dann lassen sich die Leute einfach fallen. Das ist eine Folge der Müdigkeit. Solange sich jemand bewegt, stirbt er nicht. Aber wenn er sich nicht mehr bewegt, geht es abwärts. Diese Skitourengänger haben sich wahrscheinlich zusammengehockt und gehofft und gehofft.
 
Das Bauen einer Schneehöhle?
 
Das würde helfen. Aber dazu brauchst du alles: Eine Schaufel, die Energie und vor allem jemand, der die Anweisungen gibt. Einer, der sagt, jetzt tun wird das. In der Geschichte meines neuen Films geht es genau darum. Peter Hillary, Sohn von Edmund Hillary sagt, dass plötzlich einer von den vier Bergsteigern, der unverletzt war, wie ein General geworden ist. Der hat einfach Befehle gegeben und gesagt, so tun wir das. Wenn einer gesagt hat, ich kann nicht mehr, dann hat er ihn angeschnauzt: „Du hast das Maul zu halten, ich befehle und so tun wir es“. Nur so haben sie sich schließlich gerettet.
 
Wir schnell kommt der Tod in der Kälte ?
 
Es geht nicht sehr schnell. Aber es ist offensichtlich am Ende ein angenehmer Tod. Ich habe 1978 ein Buch über sterbende Leute am Berg gemacht, die das als angenehm empfinden. Man weiß, dass sich die Leute am Ende ihre Jacke ausziehen, weil sie zu warm bekommen. Das ist eine vom Körper vorgetäuschte Wärme. Bei der ganz großen Tragödie am Everest 1996 hat sich der Hauptführer, als er beim Abstieg den Kältetod starb, die Daunenjacke ausgezogen. Der Körper täuscht eine Wärmewallung vor und damit geht es schneller.
Man weiß, dass sich die Leute am Ende ihre Jacke ausziehen, weil sie zu warm bekommen. Das ist eine vom Körper vorgetäuschte Wärme.
Ein Bozner Architekt, der in Wallis überlebt hat, sagt jetzt, dass große Fehler gemacht worden sind?
 
Er war dabei, deshalb kann er das sagen. Ich war nicht dabei, deshalb möchte ich das nicht beurteilen. Es ist zu leicht, hier zu urteilen und im Nachhinein alles besser zu wissen. Meine Haltung dazu ist seit langem klar: Der Hauptfehler von uns Bergsteigern besteht darin, dass wir das tun. Wenn wir es nicht tun, dann kann nichts passieren. Wenn ich losgehe, dann kann immer etwas passieren. Dazu kommt eine paradoxe Situation. Heute habe wir ausgezeichnete technische Geräte. Wir haben das Handy und das GPS. Das lockt aber die Leute immer weiter an den Rand des gerade noch Machbaren. Das probieren wir und im Notfall, steigen wir ab oder rufen Hilfe. Doch am Berg geht das nicht immer gut. Leider.