Gesellschaft | Jugend
„Wahrgenommen zu werden“

Foto: RAInews
Salto.bz: Herr Gerichtspräsident Baumgartner, es war der Aufreger des Jahres. Eine 15jährige Schülerin wird am helllichten Tag in Bozen von zwei Farbigen vom Rad gerissen, in die Büsche gezerrt und vergewaltigt. Jetzt hat das Mädchen gestanden, alles erfunden zu haben. Sie wollte damit ihren Freund beeindrucken. Was passiert diesem Mädchen?
Benno Baumgartner: Zum konkreten Fall möchte ich nichts sagen. Ich habe ihn nicht verfolgt und damit fehlen mir direkte Informationen. Aber grundsätzlich ist es so, dass auch Minderjährige Verbrechen begehen können. Meistens ist man ab 14 Jahren straffähig. Es braucht sozusagen einen gewissen Grad an Reife um strafrechtlich zu Verantwortung gezogen zu werden. Täuscht ein Minderjähriger demnach eine Straftat vor, dann werden staatsanwaltschaftliche Ermittlungen eingeleitet und ein Verfahren beim Jugendgericht eröffnet.
Welche Straftat liegt in diesem Fall vor?
Entweder Artikel 368 - calunnia. Das heißt man bezichtigt jemand einer Straftat, wissend dass er unschuldig ist. Die Anklage muss hier nur beweisen, dass man das wissentlich getan hat.
Oder Artikel 367 - simulazione di reato. Also die Vortäuschung einer Straftat. Hier täuscht jemand nur eine Straftat vor ohne konkret jemand zu bezichtigen. Dieser Strafbestand ist weit weniger schwerwiegend als der erste.
Es braucht sozusagen einen gewissen Grad an Reife um strafrechtlich zu Verantwortung gezogen zu werden
Im konkreten Fall geht es um ein äußerst brisantes Thema. Besteht nach dieser spektakulären Wende nicht die Gefahr, dass man vielen jungen Frauen nicht mehr glauben wird?
Natürlich ist das ein sehr heikles Thema. Es passiert manchmal, dass Anschuldigungen erhoben werden, die sich dann als völlig unwahr herausstellen. Aber das sind Ausnahmefälle. Der Prozentsatz im Vergleich zu allen Fällen ist sehr gering. Als Ermittler geht man grundsätzlich – und das sage ich als früherer Staatsanwalt am Landesgericht – davon aus, dass die Anzeige, die gemacht wurde, stimmt. Man sucht dann die Beweise dafür. Natürlich kann es auch passieren, dass die Anzeige erfunden ist.
Vielleicht ist es am Anfang nur eine Notlüge. Dann springen aber die Medien und die Politik drauf und schon ist es so groß, dass man es selbst nicht mehr bremsen kann?
Kommt ein Stein erst einmal ins Rollen, dann ist es schwer ihn aufzuhalten. Ein Fall, der einen großen Rummel in den Medien auslöst, entwickelt sehr schnell eine Eigendynamik. Die dann weniger mit der konkreten Straftat zusammenhängt, als mit den Reaktionen auf den Medienrummel. In der derzeitigen Stimmung bekommt dann das Ganze, wenn ein Ausländer beschuldigt wird, noch einmal eine ganz besondere Brisanz.
Was kann das Jugendgericht in einem solchen Fall mit der jungen Frau tun? Außer sie zu verurteilen?
Im Jugendstrafrecht ist die Persönlichkeit des potentiellen Täters oder der Täterin zentral. Deshalb muss man sich auch die persönliche Geschichte anschauen und das soziale Umfeld muss ausgeleuchtet werden. Dann kann man als Richter manchmal auch verstehen, was hinter einer Straftat steht.
Als Ermittler geht man grundsätzlich davon, dass die Anzeige, die gemacht wurde, stimmt.
Das Jugendgericht Bozen wird sich demnächst mit diesem konkreten Fall beschäftigen müssen?
Das weiß ich nicht. Zuerst muss der Fall an der Staatsanwaltschaft des Landesgerichtes abgeschlossen werden. Soweit sind wir noch nicht. Dann muss eine Meldung ans Jugendgericht erfolgen. Erst dann kann unsere Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen beginnen. Wir werden sehen ob es soweit kommt.
In den Medien gibt es seit einiger Zeit ein neues Reizwort: Die Babygang. In diesen Tagen haben ein paar Halbstarke mehrere aufblasbare Schwimmbecken der Gemeinde aufgestochen. Ein saublöder Lausbubenstreich. Die Schlagzeile im „Alto Adige“ spricht von einer Babygang.
Ich habe von einem Schaden von rund 20.000 Euro gelesen. Also Lausbubenstreich ist das keiner mehr. Aber natürlich: Eine Babygang ist etwas völlig anderes. Es gibt diesen Fachterminus in der Jugendgerichtsbarkeit für eine geschlossene Gruppe von jungen Menschen, die eine ganze Reihe von Straftaten begehen. Es stimmt: Wenn in Bozen drei Jugendliche etwas anstellen, dann schreibt die Zeitung groß von der Babygang. Das ist vollkommen aus der Luft gegriffen. Vor allem aber es ist gefährlich.
Wenn in Bozen drei Jugendliche etwas anstellen, dann schreibt die Zeitung groß von der Babygang
Wie meinen Sie das?
Ich hatte einen Fall einer echten Babygang. Auch damals war die Situation sehr ähnlich. Das ganze wurde medial unheimlich hochgespielt. Dieses mediale Echo hat die Gruppe der Minderjährigen aber erst recht bestärkt und angetrieben. Plötzlich waren sie wichtig. Meistens sind das Jugendliche, die für ihre Eltern, für das soziale Umfeld wenig sichtbar sind, die wenig Aufmerksamkeit bekommen. Die Tatsache, dass die Gruppe plötzlich jeden Tag in der Zeitung stand, hat sie sichtbar gemacht. Jetzt hatten sie die Aufmerksamkeit, die sie sich immer gewünscht haben. Es ist hier nicht wichtig welche Art der Aufmerksamkeit ist. Ob gesellschaftliche Anerkennung oder gesellschaftliche Ächtung ist zweitrangig. Erstrangig ist überhaupt irgendwie aufzufallen. Das Gefühl haben wahrgenommen zu werden. Das könnte auch in diesem Fall eine Rolle gespielt haben.
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