Gehlers fünf Thesen
Die Südtiroler Volkspartei forderte gleich mit Kriegsende das Selbstbestimmungsrecht. Die Tiroler Landesregierung und die österreichische Bundesregierung zogen als bald nach, was die Siegermächte auf der Londoner Außenministerkonferenz im September 1945 in einer vorläufigen Entscheidung zurückwiesen. London drängte Rom zu einer Autonomie für Südtirol. Die definitive Regelung sollte erst auf der Pariser Friedenskonferenz ein Jahr später fallen. Am Ende einer wechselhaften Entwicklung stand das zwischen Österreichs Außenminister Karl Gruber und Italiens Ministerpräsident Alcide De Gasperi am 5. September 1946 unterzeichnete und nach ihnen auch so benannte Abkommen. Der in den Kernfragen nur knapp und vage gehaltene Text gab zu wenig Optimismus Anlass, zumal die kollektive Erinnerung an die faschistische Unterdrückung der Südtiroler seit den 1920er Jahren noch sehr präsent war. Kaum war die Tinte unter dem nur knapp zweiseitigen Dokument trocken, kam schon Streit über die Auslegung der territorialen Abgrenzung des Autonomiegebiets auf, weil dessen Einbeziehung in eine erweiterte Region „Trentino-Alto Adige“ mit einer italienischen Mehrheit von 5:2 und entsprechende Einschränkungen für die Südtiroler drohten. Ein über Jahrzehnte andauernder Konflikt war damit vorprogrammiert. Welche Hintergründe trugen zu diesem Abkommen bei?
Wien bekam seine Unabhängigkeit durch den österreichischen Staatsvertrag erst im Jahre 1955. Der 36jährige, außenpolitisch unerfahrene Tiroler Gruber war im Umgang mit dem hohen Erwartungsdruck der österreichischen Öffentlichkeit, Südtirol zurückzuholen, überfordert. Als er zu erkennen glaubte, dass die Siegermächte nicht für eine integrale Lösung zu haben schienen, fühlte er ab 1946 verfrüht – bevor definitiv entschieden wurde – mit großzügigen Wirtschafts- und übereilten Gebietskonzessionen („Bozner-“ und „Pustertal-“ sowie einer Kondominiums-Lösung) vor. Er brachte zwar De Gasperi damit kurzzeitig in Verlegenheit, diskreditierte dadurch aber moralisch das Gesamtanliegen und musste konsequent von einem und dem nächsten Vorschlag wieder Abstand nehmen. Es wurde ein Rückzug auf Raten, der bis 1948 anhalten sollte. Angesichts der sowjetischen Besatzung mit Demontagen, Enteignungen und Verschleppungen im eigenen Lande sah Gruber Österreichs Existenzfähigkeit ernsthaft bedroht und nur in Verbindung mit dem Westen, allen voran mit den USA und Italien als Partner die einzige Überlebenschance. Er kam daher De Gasperi so weit entgegen, dass das Abkommen einem Geschenk an Italien glich. Tatsächlich war es ein Erfolg der britischen Diplomatie, die das Minderheitenproblem auf bilaterale Weise lösen ließ und sich damit der politisch-moralischen Verantwortung für den Londoner Geheimvertrag von 1915 entzog. Die auf De Gasperi ruhenden Erwartungen als Hoffnungsträger aufgrund seiner altösterreichischen Vergangenheit und guter Kenntnisse über Südtirol sollten sich als trügerisch erweisen. Er scheute sich, seit 1945 mit Gruber direkt in Kontakt zu treten und entsandte nur seinen Vertrauensmann, den italienischen Botschafter in London, Nicolò Carandini, nach Paris.
„Der 36jährige, außenpolitisch unerfahrene Tiroler Gruber war im Umgang mit dem hohen Erwartungsdruck der österreichischen Öffentlichkeit, Südtirol zurückzuholen, überfordert.“
Die vorrangigen Ziele der Südtiroler Delegation sahen anders aus als jenes Rückzugsmanöver von Gruber. Sie lauteten für die Friedenskonferenz: Selbstbestimmung und Rückkehr zu Österreich. Sollte das nicht möglich sein: ein Freistaat so wie Liechtenstein als internationale Übergangslösung, wie es der US-Diplomat und spätere Außenminister Dean Acheson vorgeschlagen hatte; widrigenfalls: eine Autonomie allerdings nur allein für die Provinz Bozen als Minimallösung. Es sollte aber letztlich nicht einmal die dritte Wahl sein, sondern die befürchtete Regionalautonomie mit dem Trentino. Österreich war zwar auf Basis der Vereinbarung in der Lage, die Wiedereinbürgerung der Südtiroler Optanten und teilweise auch ihre Rücksiedlung zu ermöglichen, allerdings war das Abkommen keine starke Argumentationshilfe für eine in weite Ferne gerückte, wirksame Autonomie für Südtirol allein, obwohl es Teil des Friedensvertrags mit Italien vom Februar 1947 werden sollte.
Karl Guber (1945 in Innsbruck): Hoher Erwartungsdruck
Die der enttäuschten Öffentlichkeit nördlich des Brenner vermittelte Auffassung der zeitgenössischen politischen Akteure vom Pariser Abkommen als dem „Maximum des Möglichen“ ist jedoch nicht haltbar. Im Lichte der erwähnten legitimen Südtiroler Forderungen im Sinne der genannten Prioritäten war das Ergebnis des Abkommens nur ein Minimum vom Minimum. „Österreichische Interessen sind nicht Südtiroler Interessen“ ließ Gruber seine Diplomaten wissen.
„Für eine eigenständige Autonomie wäre zumal mehr zu erreichen gewesen“
Für eine eigenständige Autonomie wäre zumal mehr zu erreichen gewesen: Österreich war geostrategisch für den Westen auch wichtig und sollte im westlichen Lager gehalten werden. Die Siegermächte wussten genau: An sich sprach alles für die Rückkehr Südtirol, nämlich die Demographie, die Demokratie, die Geographie, die Geschichte, die Kultur und die Wirtschaft. Es gab daher auch Verständnis und Wohlwollen für die Südtiroler Anliegen in London. Das britische Angebot in Paris zur Präzisierung des Vertragstexts blieb von Gruber jedoch ungenutzt. Er wollte einen raschen Abschluss und wusste nicht, dass im Gesamtzeitraum vom Herbst 1945 bis zum September 1946 sein Handlungsspielraum gegenüber Italien größer war, zumal De Gasperi noch während der Pariser Friedenskonferenz die Zulassung einer Volksabstimmung in Südtirol fürchtete, die zeitgleich von einer interalliierten Kommission geprüft werden sollte. Diese Forderung war die stärkte Waffe, die Österreich bis zuletzt in der Hand hatte. Gruber gab sie vorzeitig preis und verspielte damit auch das Kapital der Selbstbestimmung als Druckmittel in den Verhandlungen. De Gasperi hatte die gleiche Forderung für Triest ganz bewusst zurückgestellt, um Südtirol zu halten und es in eine Sonderautonomie mit Trient einzubinden. Da es im Trentino mit der Associazione Studi Autonomistici Regionali (ASAR) eine starke autonomistische, ja zuweilen sezessionistische Strömung gab und sich sehr viele Trentiner 1945/46 in unerwartet starkem Maß als „Tiroler“ bekannten und zu Österreich tendierten, waren Anlässe genug für De Gasperi gegeben, das Anliegen Triest und Istrien für die Rettung Südtirols und den Erhalt des Trentino zurückzustellen.
„Der Pariser Vertrag wurde in Folge nicht mit europäischem Geist umgesetzt, sondern im postfaschistischen Denken verwässert.“
Der Pariser Vertrag wurde in Folge nicht mit europäischem Geist umgesetzt, sondern im postfaschistischen Denken verwässert. De Gasperi handelte dabei alles andere als der viel gepriesene Europäer, der er erst Anfang der 1950er Jahre wurde: Eine ausdrückliche Erwähnung der Ladiner im Abkommen lehnte er ab wie die Forderung der Tiroler nach einer schiedsgerichtlichen Regelung, die auch von Gruber nicht weiter verfolgt wurde. So war echter Minderheitenschutz kaum möglich.
Österreich errichtete nach Abschluss des Abkommens eine Außenstelle des Bundeskanzleramts in Innsbruck unter Leitung von Hofrat Erich Kneussl, die sich offiziell nur um die Rücksiedlung der Südtiroler, also die Optantenfrage, kümmern sollte. Es galt aber auch für sie, die schleppende Regelung der Autonomiefrage und der Optanten-Vermögen, die italienischen Regierungsmethoden in Südtirol und hierbei die Rolle des italienischen Präfekten von Bozen genau zu beobachten und Bericht zu erstatten. Die Einschätzungen wurden dabei immer negativer. Früh tauchten daher bereits Forderungen auf, die Südtirolfrage vor die UNO oder den IGH zu bringen, um zu einem rascheren Durchbruch in der ungelösten Autonomiefrage zu gelangen.
Das Gruber-De-Gasperi-Abkommen: Keine Magna Charta?
Ein erfahrener und kritischer Beobachter der Entwicklung in Südtirol war und blieb Eduard Reut-Nicolussi, ein alter Vorkämpfer für Südtirols Selbstbestimmung sowie die Einheit und Freiheit Tirols, seines Zeichens Professor für Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Er gab – ganz im Unterschied zu Grubers Politik – noch rechtzeitig im Jahre 1947 zu bedenken, dass nun nach Paris eine weitere Kompromisslösung in der Auslegung des Abkommens „ein schwerer Fehler“ sei, war doch dieser Vertrag vom Tirolischen Standpunkt ausgehend praktisch schon eine Vor- bzw. Verzichtsleistung gewesen. Da der italienischen Regierung eine Revision des Friedensvertrages vorschwebte, war offen, inwieweit auch das Pariser Abkommen als dessen Annex weiterhin Gültigkeit behalten sollte. Darum bestand für Reut-Nicolussi keine Notwendigkeit für die Südtiroler, sich mit einer „halben Lösung“ des Abkommens abzufinden. Die konsequent richtige Politik sollte – ganz im Gegenteil – darin bestehen, vom Pariser Abkommen und seinen Folgerungen kein Jota abzugehen. Jede Aufgabe eines Anspruches aus dem Vertrag wäre ein Fehler, weil damit eine durch die Opfer und Anstrengungen dreier Jahrzehnte errungene Position preisgegeben würde. Dabei dürfe die Südtirolfrage nicht von einem internationalen Problem zu einem inneritalienischen Verwaltungsanliegen herabgestuft werden. Diese Gefahr würde dann entstehen, wenn die Südtiroler selbst ihre Zustimmung zu einer Verwaltungsgemeinschaft mit Trient geben würden. Reut-Nicolussi empfahl, sich Garantien auszubedingen, um die staatliche Verwaltung in Südtirol auch durch Südtiroler zu besorgen. Für die Durchführung des Pariser Abkommens sollte auf die Schaffung eines zwischenstaatlichen Schlichtungs- und Schiedsgerichtsapparates hingearbeitet werden. Eine solche Einrichtung war von Reut-Nicolussi schon im Vorfeld der Verhandlungen der Pariser Friedenskonferenz mit Blick auf eine gütliche Südtiroler Regelung vorgebracht worden: „Ohne dieses Mittel, das schon durch seinen juristischen Bestand wirken würde, dürfte sich die Ungleichheit des politischen Gewichts zwischen Österreich und Italien nachteilig fühlbar machen“. Die Anregung zur Installierung eines Schiedsgerichtes wurde schließlich vom SVP-Autonomieexperten Karl Tinzl neuerlich an Gruber herangetragen. Dieser lehnte sofort wieder ab. Das Haager Schiedsgericht könne jederzeit angerufen werden. Die Schiedsgerichtsfrage würde „derzeit nur stören“. Es werde ohnedies an einen „organischen Ausbau des österreichisch-italienischen Verhältnisses“ gedacht.
Im Verhältnis zwischen Südtirol und dem Trentino sollte in Folge keine befriedigende Einigung gelingen, gleichwohl es substantielle Ansätze zwischen Bozen und Trient für eine Zusammenarbeit der Südtiroler Volkspartei (SVP) mit der Trentiner Autonomistenpartei ASAR gab. Zum römischen Widerstand gegen eine eigene Autonomie für Südtirol, die Provinz Bozen, gesellte sich die Forderung der ASAR nach einer gemeinsamen Regionalautonomie für Trentino-Südtirol, d.h. man ließ sich letztlich nicht auf eine Provinzialautonomie für die Südtiroler ein.
Unterhalb der zwischenstaatlichen Ebene erfolgten erste Anstrengungen zur Ermöglichung wirtschaftlicher Kompensationsgeschäfte und zur Schaffung einer Freizone für besonders spezifizierte Güter zwischen Tirol und Südtirol unter Einbeziehung des Trentinos. Die Bemühungen zur Herstellung eines diesbezüglichen zwischenstaatlichen Vertrages zwischen Italien und Österreich waren weitgediehen, fanden jedoch zu keinem Abschluss auch aufgrund des Desinteresses in Wien und Bozen wie auch der Ablehnung zentralstaatlicher Stellen in Rom.
Im Konflikt um die Durchsetzung des Pariser Abkommens erfolgten wiederholt Interventionsanfragen der SVP in Wien, verbunden mit der drängenden Bitte, die österreichische Regierung möge doch tätig werden. Gleichzeitig gab es dazu auch Südtiroler Vorsprachen in römischen Zentralstellen, dagegen jedoch kaum Möglichkeiten zu Unterredungen mit De Gasperi. Parallel zu den Tiroler, Südtiroler und österreichischen Bemühungen, die Umsetzung des Pariser Abkommens anzugehen, lief eine italienische Gegenpropaganda an, dieses Vorhaben zu verzögern und letztlich zu verhindern. Auf verschiedenen Ebenen setzten Versuche zur Fortsetzung der früheren faschistischen Politik der Italienisierung Südtirols auf informeller Weise ein.
Aussenminister Alcide De Gasperi: Scharfe Gegenpropaganda.
Scharfe Töne wurden von der Kurie in Brixen angeschlagen. Generalvikar Alois Pompanin ortete „zwei Feinde“ unter den Italienern: „die Habsucht“ derjenigen, die nach Südtirol gekommen seien, um das Land „zu ihrem erschlichenen Vorteil auszubeuten“. Diese weiche nur der Gewalt. Der „zweite Feind“ sei „die Furcht“, die fast alle Italiener hätten, „Südtirol wieder zu verlieren“. Wenn man ihnen diese nehmen könnte, würde es sich viel leichter verhandeln lassen. Als Alternative bliebe „nichts anderes“ übrig, als diese Furcht mit einer noch größeren zu bekämpfen: der „Furcht vor Unruhen“. Aus beiden Gründen hätte man kein anderes Mittel mehr zur Verfügung, „als uns zusammenzuschließen, Aufmärsche zu machen und eventuell Krawall zu schlagen“.
Der Verlauf der Rücksiedler-Verhandlungen gestaltete sich zwischen Wien und Rom 1947 weiter äußerst zäh. In der Streitfrage von Regional- und Provinzialautonomie befanden sich die Südtiroler am kürzeren Hebel, zumal Bitten um Intervention durch die USA und Großbritannien in Wien bei Gruber keinen Erfolg zeitigten. Entweder zögerte Wien, diesen Bitten nachzukommen oder es war in London und Washington selbst kein ausgeprägtes Interesse mehr vorhanden, entsprechend einzuschreiten. Den Hauptanliegen der Südtiroler jener Zeit, die Optanten- und Autonomiefrage, wurden folglich umso mehr erhebliche Schwierigkeiten und Widerstände von italienischer Seite entgegengebracht, zumal Rom sein Einverständnis zu einer definitiven Autonomieregelung von seiner Zustimmung zur Rückkehr der für Deutschland optiert habenden Südtiroler abhängig machte.
Ein Jahr nach Abschluss des Pariser Abkommens waren die entscheidenden, die Südtirolfrage betreffenden Vorhaben, nämlich die Rücksiedlung der Deutschlandoptanten und die Ausgestaltung einer eigenen Autonomie für die Provinz Bozen noch ungelöst. Die SVP befand sich im Vergleich zum Vorjahr, als nämlich das Abkommen Gruber-De Gasperi noch nicht unterschrieben war, in einer eindeutig schwächeren Position.
Ausgehend von der ursprünglichen Forderung nach Rückkehr Südtirols ab 1945 und der seit Frühjahr 1946 geheim lancierten (und fehlgeschlagenen) Bozner-, Pustertal- und Kondominiumslösung bis hin zum akzeptierten Autonomieprojekt ergab sich Grubers „konsequenter Rückzug auf Raten“, der sich bis Herbst 1947 sowohl in der Regionalautonomie- als auch in der Regelung der Optantenfrage weiter fortsetzte.
Die scheibchenweise erfolgten Konzessionen bildeten den roten Faden der Gruber'schen bzw. österreichischen Südtirolpolitik. Daraus ergab sich für die zukünftige SVP-Politik ein ernüchternder Befund: Das Scheitern des Staatsvertragsabschlusses in Moskau im April 1947 hatte Österreich in eine schlechtere Position gegenüber Italien gebracht und die Lage Südtirols zum Negativen verändert. Die Trentiner selbst wollten Südtirol überhaupt nicht entgegenkommen.
Es folgten Jahre vergeblicher Bemühungen um Verbesserung der 1948 gewährten unzulänglichen Autonomie, die Claus Gatterer eine „Fassade“ nannte. Wesentliche Südtiroler Anliegen waren in diesem ersten Statut nur mangelhaft geregelt. Bei Besetzung der öffentlichen Stellen hatten Italiener weiterhin Vorrang. Ein Großteil der Verwaltung Südtirols wurde von Italienischsprachigen dominiert. Eine funktionierende Selbstverwaltung war inexistent. Weitgehende Autonomierechte wurden an die Region transferiert. Der Name Südtirol blieb untersagt. Mit Alto Adige („Tiroler Etschland“) lebte der faschistische Geist Ettore Tolomeis weiter fort, gleichwohl De Gasperi mit ihm keinen Berührung mehr wünschte.
Nach der gescheiterten, weil verspielten „äußeren Selbstbestimmung“ 1945/46 war durch die verweigerte Provinzautonomie 1947/48 auch die „innere Selbstbestimmung“ verhindert worden. Relevante Entscheidungen wurden bezüglich Südtirol in Trient getroffen. Das man davon loskommen wollte, wie 1957 auf Schloss Sigmundskron verkündet, kann nicht verwundern. Zusammenfassend ergeben sich fünf Erkenntnisse in Thesen-Form.
These 1: Nur temporäre Priorität für ÖsterreichSüdtirol hatte unterschiedlichen Stellenwert für Österreichs Außenpolitik (September und Dezember 1945, Mai und August, September 1946, Herbst 1947). Über weite Strecken war sie anderen Fragestellungen untergeordnet wie vor allem dem österreichischen Staatsvertrag.
These 2: Modell für zwischenstaatliche LösungenSollte die Regelung der Südtirolfrage als Lösungsbeispiel für andere Minderheitenfragen in Europa gedient haben, so lag und liegt in der bilateralen Verfahrensweise das Spezifikum. Der Preis war hoch: Kein Staat der Welt – außer die betroffenen Streitparteien – hatte ein Interesse, in diesen Konflikt involviert zu werden oder Verpflichtungen zu übernehmen. Wiederholte Versuche zur Internationalisierung endeten in der Bilateralisierung, so die Bestrebungen auf der Pariser Friedenskonferenz 1946 und die Befassung der Vereinten Nationen 1959-1961. Das führt zur These von der fraglichen Internationalisierung der Südtirolfrage.
These 3: Die Frage der InternationalisierungDie einzige Garantie, die die Südtiroler mit dem Abkommen Gruber-De Gasperi zunächst hatten, war der „gute Wille“, den sich Gruber und De Gasperi in Paris gegenseitig versichert hatten, der auf römischer Seite in den folgenden Jahren aber nur schwach ausgeprägt war. Vom vielzitierten „Geist von Paris“ war von 1946 bis 1948 nicht mehr viel spürbar. Die Signatarstaaten des italienischen Friedensvertrages von 1947 beanstandeten selbst auch öffentlich bzw. offiziell nie allfällige Nichterfüllungen des Pariser Abkommens, das ja Teil des italienischen Friedensvertrags war. Die Mächte verfolgten das Anliegen der Südtiroler nach 1945 zwar mit gewissem Interesse, aber es gab ihrerseits weder ein aktives Eintreten noch ein anhaltendes Engagement für diese Sache.
These 4: Keine Magna Charta für Südtirol, sondern für das Trentino!Die Bezeichnung „Magna-Charta für Südtirol“ (Rolf Steininger) ist nach allem, was bekannt und erforscht ist, eine übertriebene Beschönigung und unzulässige Überhöhung des Abkommens, da eine eigene Autonomie für die Südtiroler mit Hilfe dieser Vereinbarung Gruber-De Gasperi vereitelt wurde. Es war praktisch ein Dokument zur Verhinderung einer Magna Charta für Südtirol und tatsächlich nicht mehr als eine brüchige Krücke, die die Südtiroler zwang, sich auf die eigenen Beine zu stellen. Es machte dann auch die SVP in der Überwindung der Schwierigkeiten und Widerstände immer stärker. Das Pariser Abkommen war eigentlich nichts anderes als ein Mittel zum Zweck einer Magna Charta für Trient, weil es De Gasperi damit gelang, seine engeren Landsleute im Trentino in ein für sie attraktives Autonomiekonzept einzubeziehen, d. h. ihnen damit eine bevorzugte Sonderautonomie im Zentralstaat Italien zu geben und die Südtiroler zu majorisieren.
These 5: Mit früher Autonomie keine Bomben - zur Feier für Südtirol kein AnlassMit einer echten Magna Charta für Südtirol, sprich einer eigenen und wirksamen Autonomie, wären die Attentate der 1960er Jahre ausgeblieben. Auf der langen Wegstrecke vom Pariser Abkommen über das bessere Zweite Autonomiestatut 1972 bis zur Streitbeilegung vor der UNO 1992 konnten stets die Trentiner das Pariser Abkommen als ihren Erfolg feiern, was heute noch in Trient und nicht gemeinsam mit den Südtirolern in Bozen geschieht. Daher gibt es weniger Anlass zum Feiern, sondern mehr zum Nachdenken.
Weiterführende LiteraturGehler, Michael (Hrsg.), Gescheiterte Selbstbestimmung. Die Südtirolfrage, das Gruber-De Gasperi-Abkommen und seine Aufnahme in den italienischen Friedensvertrag 1945-1947 (Akten zur Südtirol-Politik 1945-1958, Bd. 1), unter Mitarbeit von Andreas Schimmelpfennig und Evi-Rosa Unterthiner, Innsbruck – Wien – Bozen 2011 (Studienverlag) (670 S.).
Gehler, Michael (Hrsg.), Keine Einigung mit Trient und Sondierungen zwischen Bozen, Rom und Wien 1947 (Akten zur Südtirol-Politik 1945-1958, Bd. 2), unter Mitarbeit von Evi-Rosa Unterthiner, Innsbruck – Wien – Bozen 2016 (Studienverlag) (709 S.).
Michael Gehler, geb. 1962, studierte Geschichte und Germanistik, Mag. und Dr. phil. habil., war Research Fellow des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) Wien 1992-1996, außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 1999-2006, 2006 Berufung an die Stiftung Universität Hildesheim als Professor und Leiter des Instituts für Geschichte sowie Verleihung eines "Jean-Monnet Chairs" für Europäische Geschichte durch die EU-Kommission; Mitglied des Liaison Committee/der Verbindungsgruppe der Historiker bei der EG-Kommission; 2011 Wahl zum Obmann der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; 2011 erneute Verleihung eines Jean Monnet ad-personam-Chairs seitens der Europäischen Kommission. Zahlreiche Publikationen zur österreichischen, deutschen und europäischen Zeitgeschichte.
Am Samstag 3. September folgt der vierte Teil: Andrea Di Michele über die italienische Südtirolpolitik 1945/1946