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Ein kleines, kulturreiches Volk

Mit 1. Juli übernahm Slowenien die Ratspräsidentschaft der EU. Zeit, sich einmal literarisch mit dem oft übersehenen Land gleich neben Italien zu beschäftigen. 
Ljubljana
Foto: Berthold Werner

Berühmt wurde Janez Janša durch einen Tweet. Am 4. November 2020 gratulierte der slowenische Premierminister US-Präsident Donald Trump zur Wiederwahl – als einziger Staatsmann weltweit. Die anderen hatten mit Bekundungen abgewartet, bis das Ergebnis stattfand. Den bald darauf feststehenden Gewinner Joe Biden zu gratulieren hielt Janša dann nicht mehr für nötig.

Slowenien hat mehr hervorgebracht als mediokre Politiker. Erfolgreiche Schriftsteller beispielsweise

Es war bei weitem nicht der einzige Fauxpas in Janšas langer Karriere. Dreimal schon hatte der 62-Jährige Sloweniens höchstes Regierungsamt inne, auch aktuell. Wenn Slowenien jetzt für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt, bieten sich Janša neue Gelegenheiten, über die Grenzen seines Zweimillioneneinwohnerstaats auf sich und sein Volk aufmerksam zu machen. 
Nicht allen Slowenen wird dies recht sein. Zu korrupt, zu rechtslastig, zu populistisch erscheint vielen ihr Premier. In Anspielung auf einen Amtskollegen und Bruder im Geist im Nachbarland schmähen sie ihn einen „Mini-Orbán“. Ihr Pech, wenn ganz Europa ihr kleines Land in erster Linie über den geltungssüchtigen Janša wahrnimmt. 
Slowenien hat mehr hervorgebracht als mediokre Politiker. Erfolgreiche Schriftsteller beispielsweise: Einer von ihnen wurde schon öfters als möglicher Nobelpreisträger gehandelt. Mittlerweile ist Boris Pahor jedoch zu alt, um für die Ehrung in Frage zu kommen. Er lebt in Triest, wo er auch geboren wurde, und feiert am 26. August einen nicht alltäglichen Geburtstag. Pahors erfolgreichster Roman heißt Nekropolis. Das in viele Sprachen übersetzte Werk beschreibt die Odyssee eines Antifaschisten durch deutsche Konzentrationslager.


Pahor gilt jedoch nicht als Sloweniens Nationaldichter. Diese Ehre gebührt dem 1904 in der Grenzstadt Sežana/Sistiana auf heute slowenischer Seite geborenen Srečko Kosovel. Dessen kurzes Leben bildete gewissermaßen den Gegenentwurf zu Pahors bald 108 Jahre währendem Erdendasein.  
Kosovel wuchs zunächst in Tomaj auf, einem Dorf im dünn besiedelten slowenischen Karst, zwei Stunden zu Fuß von Triest entfernt. Hier, im Herzen Europas und mitten in der Einöde, tobte die neben Verdun verlustreichste Auseinandersetzung des Ersten Weltkriegs. Zwölf Schlachten in drei Jahren kosteten über eine Million Soldaten das Leben. Kosovel wurde aus der Kampfzone, an deren Rand sein Dorf lag, evakuiert und durfte den Rest seiner Schulzeit im ungefährdeten Ljubljana verbringen. 

Herr Professor, verstehen Sie das Leben?

Während des anschließenden Studiums entdeckte Kosovel seine Leidenschaft für die Lyrik. Zwei Gedichtbände entstanden, dann setzte eine Hirnhautentzündung seinem Leben ein Ende. Kosovel war nur 22 Jahre alt geworden. Immer wieder hatte er von Ljubljana aus, wo er studierte, kurze Reisen in den Karst unternommen, der ihn magisch anzog. Im Karst ist er auch gestorben, in Tomaj liegt er begraben. 
Heute wird Srečko Kosovel wie Wladimir Majakowski oder Kurt Schwitters zu den führenden Vertretern des literarischen Konstruktivismus gezählt – einer Stilrichtung, welche die Welt ganz bewusst aus einem subjektiven Empfinden heraus zu interpretieren versucht. Hört sich kompliziert an, klingt aber in der aufs Wesentliche reduzierten Sprache Kosovels überraschend einfach und verständlich. Ein Beispiel gefällig?

Müder Mensch Europas 
schaut traurig in den goldenen Abend, 
der noch trauriger ist 
als seine Seele. 
Karst. 
Die Zivilisation ist ohne Herz. 
Das Herz ist ohne Zivilisation. 
Erschöpfter Kampf. 
Evakuierung der Seelen. 
Der Abend brennt wie Feuer. 
Tod Europas! 
Herr Professor, verstehen Sie das Leben?

Mit dafür, dass Kosovels auch mehr als ein dreiviertel Jahrhundert nach seinem frühzeitigen Tod nicht in Vergessenheit gerät, sorgt sein Übersetzer. Ludvík Hartinger hat nicht nur des Dichters Worte ins Deutsche übertragen. Er ist ihm nachgegangen, auf unzähligen Wanderungen, auf den Höhen des Karsts, hinunter nach Triest und herüber zu den Tropfsteinhöhlen von Škocjan, und natürlich nach Ljubljana, wo er den Spuren des Schülers und Studenten Kosovel gefolgt ist. 

 

Mittlerweile lebt Hartinger selber zeitweise in Tomaj und ist im slowenischen Karst verwachsen. Davon zeugt auch seine eigene Lyrik, abgefasst in Slowenisch und Deutsch, ebenfalls in sehr reduzierter Sprache. Hodečemu raste list za listem, nemir v nemir", heißt es in einem Gedicht: "Dem Wandelnden wächst Blatt für Blatt, Unruhe um Unruhe." Auch Hartinger ist ein Dichter des Karst geworden.

...eine Stimme vom Rande her und zugleich aus der Mitte Europas...

Den Karst, schreibt Hartinger, hat sich Kosovel „gleichsam in einer poetischen Landnahme“ erwandert, erarbeitet, erschlossen: “Stein und Sonne, das Rauschen der Föhren, ihr Brand im Abendrot, der lösende Karstwind, die packende Bora, die Wege am Rain, die Stille im Hain, die fruchtbaren Dolinen, unterirdische Wasser, das Licht im Fenster, die Schärfe des Halms.“ Noch bevor ihn die Karsterde für immer aufnahm, war der Dichter eins geworden mit der Landschaft. Kosovel hatte sich den Karst einverleibt: „Poesie ist für mich einzig das Leben“, reklamierte er für sich, „nicht mehr etwas von effektvollen Ausdrücken.“
Fast ein Jahrhundert lang ist Kosovel nun tot. Seine „Dichtung aus dem Karst“, erweist der Übersetzer ihm ein letztes Mal die Reverenz, hat überlebt, „in der Sprache eines kleinen, kulturreichen Volkes, eine Stimme vom Rande her und zugleich aus der Mitte Europas, aus einem blinden Fleck seiner literarischen Moderne.“

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Karl Trojer Fr., 09.07.2021 - 10:37

Warum soll ein 108-jähriger Srečko Kosovel nicht mehr Nobelpreis-tauglich sein ? Wer, nebst seiner Qualität als Literat so lange lebt, muss viel vom Leben verstanden haben ! Ich wünschte, dass Kosovel den Nobelpreis noch erhält...

Fr., 09.07.2021 - 10:37 Permalink