Gewichte und Preise stemmen
Premierentag
Unter einer gleichmäßig grauen Wolkendecke gedämpft beginnt der 26. Oktober in Wien, es ist Österreichischer Nationalfeiertag und wie ausgestorben präsentiert sich das Stadtbild der Wiener Innenstadt. Zumindest solange man nicht in die Nähe einer der fünf Viennale-Austragungsstätten kommt, wo am Nachmittag die Leute scharenweise und weithin sichtbar in der Schlange stehen und auf Restkarten hoffen. Die 54. Viennale ist mit über 92.000 Besucher/innen und ca. 300 Filmen verteilt über 14 Tage, Österreichs größtes internationales Filmevent und zugleich eines der akzentuiertesten und qualitätsvollsten Filmfestivals im europäischen Zusammenhang. Das Festival ist bekannt und umstritten bei den Cineasten aller Länder für seine betont avantgardistisch und politisch orientierte Programmlinie. Für viele, die sich etwas frischeren Wind und etwas unterhaltsamere Kost wünschen, ist die Viennale zu wenig glamourös, zu sehr aus einer Hand gestrickt.
Der Langzeitfestivaldirektor Hans Hurch ließ es sich auch am österreichischen Nationalfeiertag nicht nehmen, bei der Österreichpremiere von „Mister Universo“ des südtiroler/österreichischen Filmemacherduos Tizza Covi und Rainer Frimmel ins 750 Plätze fassende Gartenbaukino an der Wiener Ringstraße zu kommen und die beiden zu ihrem bereits im August in Locarno mehrfach ausgezeichneten Film, der „wieder so ganz nach meinem Geschmack zwischen Erzählung und Erfindung“ geraten sei, zu beglückwünschen.
Manege frei!
Nicht wie erwartet bergab, sondern mysteriöserweise bergauf geht es in diesem Film, den Tizza Covi und Rainer Frimmel wie schon zuvor ihre Filme „Babooska“ (2005), „La Pivellina“ (2009) und „Der Glanz des Tages“ (2012) im Zirkusmilieu angesiedelt haben und der durch die Zuversicht beeindruckt, mit der die porträtierten Zirkusakteure den wenig aussichtsreichen Zukunftsperspektiven ihrer verschwindenden Zunft mit viel Humor und Herzenswärme trotzen. Sinnbildhaft dazu führt der Film seinen Hauptdarsteller, den jungen Raubtierbändiger Tairo Caroli, an einen Ort südlich von Rom, wo die Gravitationskraft angeblich umgekehrt funktioniert, Autos auf dem schmalen Landstraßenstück wider alle Naturgesetze aufwärts rollen und Wasser den Asphalt nach oben fließt.
Ob sich das eigenartige Phänomen naturwissenschaftlich erklären lasse oder von übersinnlichen Kräften profitiere, die die Nähe zur päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo bedinge, ist nicht das einzige Rätsel, wofür die Filmemacher Covi/Frimmel in ihrer märchenhaften, zwischen Fiktion und Dokumentation angelegten Zirkusgeschichte keine eindeutige Antwort geben wollen und dafür einmal mehr das Zirkusmilieu mit seinem ambivalenten Charme zwischen Glanz und Schäbigkeit, zwischen Traummaschinerie und Alltagsmisere zu ihrem idealen Schauplatz erkoren haben.
Seit einem Streit mit den Rumänen am Zirkusstellplatz, ist Tairos Talismann verschwunden, ein gebogenes Eisen, das er als Fünfjähriger vom damaligen Weltstar unter den Gewichthebern, Arthur Robin, seines Zeichens der erste Mister Universo dunkler Hautfarbe, bekommen hat. Alle esoterischen Anstrengungen der Zirkusartistin Wendy Tairos Missgeschick wiedergutzumachen, wollen nicht recht fruchten und so macht er sich auf den Weg quer durch Italiens Zirkusanlagen, um etwas über den Verbleib des ehemaligen „schwarzen Herkules“ in Erfahrung zu bringen. Mit den Hinweisen und Glückwünschen seiner zahlreichen Verwandten, die er in ihren winterlich öden Wohnwagenanlagen der Reihe nach aufsucht und befragt, findet Tairo schließlich den Mann, der heute 88jährig zurückgezogen als Billeteur in einem Safaripark in der Nähe von Mailand lebt.
Mehrwert für Mister Universo
Die Jurybegründung für den Mehrwert-Filmpreis des Hauptsponsors Erste Bank lautete folgendermaßen: Ein charmanter, empathischer und zugleich optimistischer Film, der durch Sympathie und Authentizität der Protagonisten überzeugt. Eine Geschichte, wie das Leben selbst. Ein junger Mann nimmt das Verschwinden seines Talismans zum Anlass, den Alltag hinter sich zu lassen. Er fährt quer durch Italien auf der Suche nach dem ehemaligen Mister Universum, um seinen Glücksbringer zurückzuholen. Eine außergewöhnliche Spurensuche als feinsinnige Entdeckungsreise mit magischen Momenten.
Soviel zumindest darf von diesem berührenden Road Movie verraten werden ohne ihm die Spannung zu nehmen, schließlich gehört zumindest die unspektakulär inszenierte Begegnung der beiden ungleichen Männer mithin zu einem der schönsten Kinomomente, die die diesjährige Viennale insgesamt zu bieten hatte.