Doppelter Freitod
Man könnte bald eine Traueranzeige aufgeben für das, was bisher in Italien Mittelinks hieß. Nicht für eine Todesanzeige, denn diejenigen, um die zu trauern wäre, leben noch, zumindest bis zu den nächsten Wahlen. Aber sie zeigen sich unfähig, eine fürs Überleben notwendige Gemeinsamkeit zu finden. Ihre Trennung ist ihnen wichtiger, auch wenn sie dabei ihre eigenen Totengräber sind. Die wechselseitige Abneigung ist zu groß.
Umarmung mit Folgen
Was vor zwei Wochen in Mailand geschah, hätte ein harmloses Ereignis sein können. Es gab ein Fest der „Unità“, der ehemaligen Parteizeitung der KPI, auf dem sich die Linken, vor allem wenn sie älter sind, noch einmal im Jahr treffen. Obwohl die Einheit der Linken vergangen ist und die „Unità“ den Renzianern gehört. Auch Pisapia, der frühere Bürgermeister von Mailand, ging aus alter Gewohnheit hin. Und dort geschah es: Er traf auf Maria Elena Boschi und begrüßte sie mit einer Umarmung. Nicht wie man sich inzwischen pflichtgemäß „alla italiana“ auch in Berlin und Brüssel umarmt: Küsschen links, Küsschen rechts, schnell und geschäftsmäßig mit abwesendem Blick. Sondern er drückte sie mit Freude an sich, trotz anwesender Fotografen. So entstand die Meldung des Tages: Pisapia, die Gallionsfigur einer PD-kritischen Sammlungsbewegung, küsst die PD-Frau Boschi, welche zwar ansehnlich ist, aber die Brandmale einer doppelten Schande trägt: erstens eine „Renzianerin“ zu sein, und zweitens auch noch die Patin der (gescheiterten) Senatsreform. Es war eine Umarmung über einen Graben hinweg, der eigentlich ein Abgrund sein musste.
Anschließend wurde in den Zeitungen und sozialen Medien tagelang diskutiert, wieviel Skandal in dieser Szene steckte. Ein Vertreter der MDP (der von der PD abgespaltenen Linken, die Pisapia in seine Sammlungsbewegung einbeziehen möchte) urteilte: „Mit Renzi und der PD sollte man nicht einmal einen Espresso trinken. Das ist keine Frage des Sektierertums, sondern der Hygiene“. Als ob es nicht gerade der Wunsch nach „Reinheit“ ist, der die Sektierer antreibt. Massimo Giannini kommentierte in der „Repubblica“ sarkastisch, Pisapias Umarmung der Boschi sei ja wohl ein „identitärer Verrat“ gewesen, ein Akt „nicht nur kultureller, sondern sogar anthropologischer Ansteckung“.
Pisapia selbst kann man dabei keine politische Inkonsequenz vorwerfen. Sein Nahziel ist es, in die anstehenden Wahlen mit einer Sammlungsbewegung zu gehen, die eine Art Wiedergeburt von Prodis einstigem „Ulivo“-Bündnis darstellt, das von ganz links bis zu Zentristen, Katholiken und Bürgerbewegten reicht (oder wie Giannini spöttisch reimt: „Eine große Chiesa (Kirche) von Che Guevara bis Mutter Theresa“). Aber deren Gegner nicht Renzis PD, sondern die Rechte um Salvini, Grillo und Berlusconi ist. Und die deshalb, bei aller auch von Pisapia geteilten Kritik, eine Koalition mit der PD anstreben muss.
Antirenzismus als einziges Bindemittel
Besser als jede theoretische Abhandlung zeigt die Reaktion auf diese Umarmung das Problem, vor dem ein solcher Versuch steht. Denn die Linke, die ja in die Sammlungsbewegung einbezogen werden soll, ist zersplittert – was sie zusammenhält, ist der Antirenzismus. So ist es eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, Ultimaten zu stellen. Am bescheidensten sind noch diejenigen, die Pisapia nur die Entschuldigung dafür abverlangen, dass er noch im vergangenen Herbst Renzis Senatsreform befürwortete. Andere meinen, man müsse schon jetzt, als Vorbedingung jeder Koalition, die „Eliminierung“ Renzis ins Programm aufnehmen. Und schließlich gibt es noch diejenigen, denen auch das nicht reicht und die ihren Hauptfeind kurz und bündig in der PD sehen, mit oder ohne Renzi.
Armer Pisapia, der sich einmal vornahm, mit dieser Truppe etwas zu reißen. Vor allem hofft er wohl, mit seiner Sammlungsbewegung wieder ehemalige Mittelinkswähler mobilisieren zu können, die der Renzismus in die Enthaltung getrieben hat. Wofür das Schauspiel, das die auf der Linken versammelten Politprofis bieten, nicht gerade hilfreich ist. Pisapia, der zwar populär ist, aber für sich (angeblich) kein politisches Amt anstrebt, gab schon zu erkennen, dass ihm diese Profis langsam auf den Senkel gehen. So steckt hinter seiner Umarmung der Boschi vielleicht nicht nur deren Anziehungskraft, sondern auch ein bisschen Provokation, als Test für seine politischen „Freunde“. Gott erhalte ihm den Eigensinn.
Mit dem Zug zur Volksnähe
Der politische Freitod hat im Fall der italienischen Linken einen weiteren Hauptdarsteller. Auch Renzi bereitet ihn vor. Offenbar löste das im vergangenen Dezember gescheiterte Referendum bei ihm den Reflex aus, möglichst viele Zugbrücken zur Realität hochzuziehen. Er hat gerade ein Buch mit dem anspruchsvollen Titel „Avanti!“ herausgebracht, das er von Anfang bis Ende selbst geschrieben haben soll (was in seinem Fall zumindest gewagt ist). Aus ihm sind Zitate im Umlauf, in denen er über Repräsentanten von Mittelinks wie Letta oder Prodi mit Gift und Ironie herzieht – ihre Schuld ist ihre zunehmende Kritik an ihm. Anders als Pisapia, der schon vor der Wahl auf eine breite Einheitsfront gegen die populistische Rechte hinarbeiten will, erklärt Renzi sich und damit die PD für „autosufficiente“ (selbstgenügsam). Vor der Wahl sei kein Bündnis nötig (was den Verdacht nahelegt, dass er sich die Hände für ein Bündnis mit Berlusconi freihalten will). Ansonsten will der Caudillo nun den direkten Kontakt zum „Volk“. Dafür hat er einen Plan: mit dem Sonderzug durch Italien zu fahren, um diesem Volk an möglichst vielen Orten zu begegnen. Vielleicht hat er alte Filme über Präsidentenwahlkämpfe in den USA gesehen, vielleicht inspiriert ihn auch Grillo, der noch vor einigen Jahren so über die Marktplätze zog. Es ist ein Plan, der in diesem Fall aus der Einsamkeit geboren ist. Und vor allem einen Gedanken nicht zulässt: dass der Zauber, der einmal von seiner Person ausging, inzwischen verloren gegangen sein könnte.
Die „Sonntagsfrage“, Anfang August 2017
Im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen sagen die politischen Meinungsforscher: Wären heute Wahlen, bekämen Renzis PD und Grillos 5-Sterne-Bewegung etwa gleich viel, aber beide deutlich unter 30 % und beide mit abnehmender Tendenz. Die Rechte mit Berlusconis Forza Italia, Salvinis Lega und Melonis Fratelli d’Italia käme addiert auf etwa 35 %. Wer sich damit tröstet, dass es diese Rechte nicht einmal schaffen wird, sich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu einigen, setzt auf Unregierbarkeit (die früher oder später zum Ruf nach dem „starken Mann“ führt). Aber es könnte noch schlimmer kommen: Eine gar nicht mehr so hypothetische „Populistische Front“, die von Grillo über Salvini bis Meloni reicht, käme jetzt schon auf 45 bis 47 %, also fast die absolute Mehrheit. Die Anzeichen dafür, dass sich diese Front auch in den Köpfen ihrer Führer Grillo, Casaleggio und Salvini formiert, mehren sich. Zumal Europa sein Bestes tut, um ihr weitere Wähler zuzutreiben. Es reicht schon, Italien in der Flüchtlingsfrage allein zu lassen.