Politik | Interview

"Das ist Show-Justiz"

Für den Strafverteidiger Nicola Canestrini ist die Justizreform "Cartabia" enttäuschend. Der Prozess werde so nicht beschleunigt, sondern auf riskante Weise abgebrochen.
Nicola Canestrini
Foto: Othmar Seehauser

Die EU-Gelder des Recovery Funds sind unter anderem an die Reform der italienischen Justiz geknüpft. Diese Reform soll nun mit dem Gesetzesentwurf der zuständigen Ministerin und ehemaligen Vorsitzenden des italienischen Verfassungsgerichtshofs, Marta Cartabia, durchgeführt werden. Am Dienstag hat die Abgeordnetenkammer den Gesetzesentwurf durch ein Vertrauensvotum genehmigt. Nun geht die Justizreform in den Senat, wo sie nach der Sommerpause behandelt wird. Auch wenn die Diskussionen sowohl innerhalb der Regierungsparteien wie auch zwischen Mehrheit und Opposition nicht fehlen, scheint die Reform bereits in trockenen Tüchern zu sein. Salto.bz hat mit dem Trentiner Strafverteidiger Nicola Canestrini über den Inhalt der geplanten Reform gesprochen.

 

Salto.bz: Herr Canestrini, am Dienstag hat die Justizreform “Cartabia” in der Kammer die Mehrheit erhalten. Hoffen Sie auf dasselbe Ergebnis im Senat?

Nicola Canestrini: Ehrlichgesagt würde ich mir erhoffen, dass Justizminister, Regierung und Parlament sich mit einer seriöseren Justizreform abgeben. In den letzten fünf Jahren gäbe es drei Justizreformen und jedes Mal wurde die Reform als diejenige ausgelegt, die jegliche Probleme der italienischen Justiz behebt. Die Themen sind immer dieselben: angemessene Dauer der Strafjustiz, Verjährung, Personalmangel… Die Justizminister treten dann stolz vor die Kamera und verkünden, eine Lösung gefunden zu haben. Das war mit Orlando so, mit Bonafede und jetzt auch mit der Ministerin Cartabia. Das Problem bei all diesen Reformen ist: Es geht um Showjustiz. Wenn die Show fertig ist, treten die Probleme wieder zum Vorschein.

Ziel der Reform ist es, die Prozesse um 25 Prozent zu beschleunigen. Glauben Sie, dass dieses Ziel erreicht werden kann?

Ich hoffe es, kann mir aber nicht vorstellen wie. Es gibt für komplexe Probleme nie eine einfache Lösung, aber eines der Probleme der italienischen Justiz ist, dass zu viel strafrechtlich verfolgt wird. Laut Verfassung müsste jede Straftat verfolgt werden. Wenn ein Staatsanwalt aber 100 Fälle pro Tag auf den Tisch bekommt, muss er natürlich eine Auswahl treffen und entscheiden, welche Straftaten verfolgt werden und welche nicht. Nicht alles kann verfolgt werden. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Strafverfolgung wird so in der praktischen Umsetzung negiert.

Eines der Probleme der italienischen Justiz ist, dass zu viel strafrechtlich verfolgt wird.

Laut Gesetzesentwurf soll das Parlament einmal im Jahr darüber entscheiden, welche Prozesse verfolgt werden und welche nicht. Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag?

Der Vorteil ist, dass die Entscheidung nicht mehr der jeweiligen Staatsanwaltschaft überlassen wird. Ich frage mich aber, ob das mit dem Grundsatz der italienischen Verfassung – also der obligatorischen Verfolgung von jeder Straftat – vereinbar ist. Zudem hat das italienische Parlament schon einige Male versucht, die Strafverfolgung von Politikern abzuwenden. Ich bin hier etwas skeptisch, die Unabhängikeit der Gerichtsbarkeit ist ein Grundstein des Rechtsstaates.

Sie sprechen sich stattdessen dafür aus, in bestimmten Fällen von einer strafrechtlichen Verfolgung abzusehen. Warum?

60 Prozent der Verjährungen treten während der Ermittlungen ein. Wir sollten darüber reden, ob tatsächlich alles, das heute strafbar ist, auch wirklich strafbar sein sollte. Es gibt in Italien so viele Straftaten, dass wir die genaue Anzahl gar nicht kennen. Der ehemalige Justizminister Andrea Orlando hat in seiner Amtszeit ein paar mutige Schritte gesetzt: Wenn ich früher Schinken um drei Euro im Supermarkt gestohlen habe, musste das verfolgt werden und kam zur Verurteilung. Heute kann der Richter entscheiden, dass das Delikt nicht verfolgungswürdig und somit auch nicht strafbar ist. Der Ermittlungsprozess wird auf diese Weise aber trotzdem belastet: Die Zeugen werden aufgerufen, um die Frage der strafrechtlichen Verfolgung zu klären. Über diese Dinge müssen wir uns unterhalten, nicht immer über die Verjährung der Prozesse.

…die auch in dieser Justizreform wieder zum Hauptthema geworden ist. Warum?

Verjährung bedeutet, dass wenn nach einer gewissen Zeit noch kein definitives Urteil gesprochen wurde, die Straftat erlischt und der Angeklagte freigesprochen wird. Dieses Erlöschen der Straftat befinden viele als “nicht zumutbar”, vor allem jene, die nicht verstehen, dass eine Ermittlung noch längst keine Verurteilung ist und dass in Italien etwa drei Personen pro Tag zu Unrecht verhaftet werden. Für sie ist Justiz einfach: Man sperrt ein. Alles, was einer schnellen Verurteilung im Weg steht, ist falsch. Solche Ansichten werden auch durch die skandalträchtige mediale Berichterstattung unterstützt. Natürlich: Jede Verjährung ist eine Niederlage für den Rechtsstaat. Aber wenn ich heute angeklagt werde, muss die Justiz in einem angemessenen Zeitraum feststellen können, ob ich schuldig bin oder nicht. Das Recht des Staates auf Straftaten zu verfolgen, läuft irgendwann aus. Nach dreißig Jahren – die Verjährungsfrist für Sexualstraftaten – macht die Bestrafung weder für das Strafopfer noch für den Angeklagten mehr Sinn. Anstatt an den Problemen zu arbeiten, die zur Verjährung führen, nämlich: die Dauer der Prozesse, wird die Verjährung wie durch die letzte Justizreform einfach abgeschafft. Schneller sind die Prozesse dadurch nicht geworden.

Sowohl das Opfer als auch der Angeklagte haben ein Recht auf einen klaren Urteilsspruch.

Die jetzige Reform sieht vor, dass Berufungsprozesse – mit einigen Ausnahmen – maximal drei Jahre dauern dürfen. Nach dieser Frist werden sie als nicht-verfolgbar erklärt. Inwiefern unterscheidet sich diese Nicht-Verfolgbarkeit von der Verjährung eines Prozesses?

Die Abschaffung der Verjährung durch diese Reform anzufechten war politisch nicht möglich, das Ergebnis ist enttäuschend. Was die Nicht-Verfolgbarkeit eines Prozesses konkret bedeutet, ist mir schleierhaft. Wir sagen: “Der Prozess kann nicht mehr weitergehen; es wäre vielleicht möglich festzustellen, ob jemand unschuldig ist oder nicht, aber diese Feststellung ist formal nicht länger erlaubt, da die Frist abgelaufen ist.” Hier sehe ich – mit Blick auf den Europäischen Gerichtshof – ein großes Problem. Sowohl das Opfer als auch der Angeklagte haben ein Recht auf einen klaren Urteilsspruch. Jemand ist entweder schuldig oder unschuldig, Halb-Schuldige oder Halb-Unschuldige sind mit der europäischen Menschenrechtskonvention nur sehr schwer vereinbar. Weil es sich bei der Nicht-Verfolgbarkeit um ein formelles und nicht – wie bei der Verjährung – um ein substanzielles Kriterium handelt, könnten wir hier in Zukunft Probleme bekommen.

Das heißt, die von der EU gewollte Reform, an die die Gelder des Recovery Funds geknüpft sind, wird auf diese Weise nicht realisiert? 

Wir müssen darauf hinarbeiten, die Prozesse zu kürzen. Dafür gibt es aber keine Abkürzungen, es ist leider kompliziert. Mit dieser Reform könnte es passieren, dass die EU – für die wir diese Reform angeblich durchführen – uns in einigen Jahren zur Rechenschaft zieht.

Welche Aspekte sollte eine solide Justizreform stattdessen angehen?

Die Reduzierung der Straftaten ist das Wichtigste. Über das Organisatorische selbst kann ich nicht viel sagen, aber die Einsparungen bringen große Engpässe zum Vorschein und tragen kaum zu einer effizienteren Justiz bei: Vorsitzende der Gerichtsbarkeit sind hoffentlich erfahrene Juristen, haben oft aber weder die Zeit noch die notwendigen Fähigkeiten, um sich um die Organisation der Justiz zu kümmern.

Durch die Reform sollen auch 16.500 Richterassistenten eingestellt werden. Könnte dies eine Lösung sein?

Das weiß ich nicht. Der Vorschlag ist aber nicht neu und hat bis heute noch nie wirklich funktioniert. Die Justiz darf sich nicht in ein Fließband verwandeln, unerfahrene Richter können Risiken mit sich bringen. Effizienz heißt noch lange nicht Gerechtigkeit. Wenn ich mir die Urteile von deutschen Richtern ansehe, bin ich oft erstaunt, wie viel Zeit sie sich für den Urteilsspruch nehmen. Ich würde mir wünschen, dass sich ein Minister oder eine Ministerin öffentlich dafür ausspricht, die Justiz gebührend zu unterstützen: “Tut mir leid Leute, wenn ihr wollt, dass die Justiz funktioniert, müssen wir Geld hineinstecken.”

Mit dieser Reform könnte es passieren, dass die EU – für die wir diese Reform angeblich durchführen – uns in einigen Jahren zur Rechnung zieht.

Sie sagen, dass sich die deutschen Richter mehr Zeit für den Urteilsspruch nehmen. Gleichzeitig sind die Prozesse viel schneller. Was ist denn der große Unterschied zwischen den beiden Systemen in Deutschland und in Italien? 

Da fragen Sie mich zu viel. Aber die Justiz funktioniert in ganz Europa besser als in Italien.

In der Parlamentsdebatte haben einige Abgeordnete die Reform als “ersten Schritt” bezeichnet, auf den weitere Schritte folgen werden. Ist diese Reform ein erster Schritt?

Wir haben zu viele erste Schritte gesetzt. Orlando, Bonafede, Cartabia – das waren drei erste Schritte. Die Abschaffung der Rechte der Angeklagten wird dabei immer als Erstes angegangen, die Abschaffung der Verjährung beispielsweise. Aber der zweite Schritt, der die Prozesse tatsächlich beschleunigen sollte, sodass eine Verjährung nicht mehr nötig wäre, kommt nie.

Ginge es nach Ihnen, sollte der Senat die Reform also nicht genehmigen? 

Ich gehe davon aus, dass die Reform genehmigt werden wird. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns in ein paar Jahren wieder über einen ersten Schritt unterhalten werden. Zudem sehe ich der Zerstückelung der Rechte der Angeklagten mit sehr viel Skepsis entgegen.

Apropos Zerstückelung: Die 5-Sterne-Bewegung hat Abänderungen an der Justizreform durchgerungen, die vorsehen, dass die Nicht-Verfolgbarkeit eines Prozesses bei bestimmten Verfahren, wie beispielsweise jenen gegen die Mafia, nicht greift. Eine Errungenschaft der 5-Sterne-Bewegung oder reiner Populismus? 

Das ist Show-Justiz. So wie sie damals die Armut abgeschafft haben, retten sie heute Italien vor der Mafia. Was sie nicht sagen: Kein Mafia-Prozess verjährt. Die Angeklagten sind meist in Untersuchungshaft und werden deshalb zurecht auch vorgezogen. Sie werden über den Eilweg geleitet, da die Person ja – aufgrund der Unschuldsvermutung unschuldig – in U-Haft sitzt. Warum Angeklagte je nach Straftat andere Rechte haben sollten, ist für mich unverständlich. Während man in anderen Ländern versucht, in kurzer Zeit einen Urteilsspruch für Mafia-Prozesse zu finden, ohne die Rechte der Angeklagten zu beschneiden, werden in Italien Prozesse mit 200 Angeklagten geführt, Rechte zerstückelt und das ganze theatralisch sogar verfilmt.

 

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Karl Trojer Fr., 06.08.2021 - 08:58

Wie wär´s, wenn die "Gewerkschaft" der Rechtsanwälte sich die Mühe machen würde, entsprechend zielführende Vorschläge übers Parlament einzubringen ? Nur jammern und kritisieren bringt nichts...

Fr., 06.08.2021 - 08:58 Permalink