Kultur | Salto Afternoon

Aliens

In "Filomena – Boccaccio Reloaded" beschreiben Autor*innen die aktuelle Lage, in der soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verstärkt zum Vorschein kommen.
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Foto: Gregor Khuen Belasi

von Anna Gschnitzer

Meine Mutter sagt:  

ICH ERZÄHLE EUCH EINE GESCHICHTE. ES GAB EINE ZEIT IN DER SICH DIE MENSCHEN IHRER VERLETZLICHKEIT BEWUSST WURDEN UND SICH SEHR DARÜBER ERSCHRAKEN. EINIGE WENIGE, DIE DAS PRIVILEG HATTEN, ZOGEN SICH ÄNGSTLICH IN IHRE LANDHÄUSER ZURÜCK UND BUKEN DORT BANANENBROT. SIE WOLLTEN NICHT EINSEHEN, DASS VERLETZLICHKEIT UND PFLEGE DIE VORRAUSSETZUNG IHRER EXISTENZ WAREN, DENN IHR VERHÄLTNIS ZU VERLETZLICHKEIT, WIE AUCH IHR VERHÄLTNIS ZU PFLEGE, WAREN VON GESELLSCHAFTLICHER GERINGSCHÄTZUNG, JA SOGAR VON MISSACHTUNG GEPRÄGT. UM SICH UND IHR BANANENBROT VOR VERLETZLICHKEIT ZU SCHÜTZEN UND BÖSE GEISTER ZU VERTREIBEN, STELLTEN SIE SICH NACHTS AUF DIE BALKONE IHRER LANDHÄUSER UND KLATSCHEN IN DIE HÄNDE, SO LANGE BIS SIE SICH WIEDER SICHER FÜHLTEN.

Nein, sowas sagt meine Mutter nicht. Sie sagt:  

ICH KÖNNTE DIE ALLE AN DIE WAND KLATSCHEN.  

Meine Mutter wollte immer, dass ich studiere, damit ich später mal was Besseres werde.  

WAS BESSERES ALS ICH?

So habe ich das doch nicht gemeint.  

ABER ICH.  

Entschuldige.  

AUF JEDEN FALL NICHT DAMIT DU BANANEBROT BÄCKST.

Ich hasse backen.

MIR MACHT MEINE ARBEIT SPASS.  

Sie wickelt und füttert alte Leute.  

DIE SIND WIE KLEINE BABIES.  

Ich glaube, meine Mutter ist gleichzeitig stolz und traurig darüber, dass sie nicht immer alles versteht, wenn ich über meine Arbeit spreche.  

STOLZ, WEIL MÜTTER GROSSZÜGIG SIND.

Und traurig?  

1. WEIL ICH SELBST GERN DIE PRIVILEGIEN GEHABT HÄTTE, DIE ICH MEINER TOCHTER ERMÖGLICHT HABE.   

Und 2.?  

WEIL DIE PRIVILEGIEN, DIE ICH MEINER TOCHTER ERMÖGLICHT HABE DISTANZ ZWISCHEN UNS BRINGEN. SO IST DAS NUNMAL MIR DER KLASSENZUGHÖRIGKEIT.  

Ich habe meine Mutter nicht um Erlaubnis gefragt ihr Wörter in den Mund zu legen, die sie so nie sagen würde.  

DU MUSST KEIN SCHLECHTES GEWISSEN HABEN. ICH BIN DEINE MUTTER ICH VERZEIHE DIR ALLES.  

Werde ich dem Kind in meinem Bauch auch alles verzeihen?  

JA. NEIN. ... DAS MEISTE.

Ich bin besser ausgestiegen als du.

UND ICH SEHE EINEN SINN IN DEN DINGEN DIE ICH TUE.  

Was die Welt gerade nicht braucht ist ein weiteres Corona Tagebuche einer privilegierten Schriftstellerin.  

DIE DANKBARKEIT DER MENSCHEN DIE ICH PFELGE IST MIT NICHTS ZU VERGLEICHEN.  

1200 Euro Brutto im Monat dafür, dass manchmal buchstäblich das ganze Zimmer vollgeschissen ist.  

WARUM BIST DU SO WÜTEND?  

Ich erkenne die Wahrheit an der Erschöpfung, die sich über das Telefon überträgt.  

SIE STERBEN UNS WIE DIE FLIEGEN VOR DER NASE WEG. SOETWAS HABE ICH NOCH NIE ERLEBT.  

1200 Euro Brutto im Monat für die Angst selbst infiziert zu werden oder seine Angehörige zu infizieren.  800 EURO für diesen Text.  

SICH GEGENSEITIG AUSZUBOTEN UNTER DEM DECKMANTEL DER SYSTEMRELEVANZ IST ZU DIESEM ZEITPUNKT EINE DENKBAR SCHLECHTE IDEE.  

Du hast Recht, wir brauchen unsere Kräfte gerade woanders.  

DIE EHEMÄNNER ZWEIER MEINER KOLLEGINNEN SIND AN COVID GESTORBEN.  

...  

Meine Mutter schützt das Kind in meinem Bauch indem sie mich nicht mehr umarmt. Indem sie mehrere Kilometer Distanz zwischen uns bringt. Seit einigen Tagen stampft es gegen meine Bauchdecke, als würde es gegen all das protestieren, was gerade passiert. Ich denke, vielleicht bekomme auch ich eine wütende Tochter. Und ich denke an den Film mit Sigourney Weaver, die Szene in der ein Alien aus dem Körperinneren durch die Bauchdecke eines Astronauten stößt.  

UNSERE KÖRPER WAREN IMMER SCHON FREMDE.  

Ich stehe auf und wiege das Wesen in mir bis es einschläft.  Mein Körper könnte ein Herd sein, eine Falle, oder ein Schutzwall.  Auf dem Bildschirm meines Handys: Eine Pflegerin, in voller Schutzkleidung. Atemmaske und Schutzbrille lassen mich ihr Gesicht nicht erkennen. Sie schaut aus wie eine Astronautin, die ein mit Covid infiziertes Neugeborenes in beiden Händen hält. Seit es auf der Welt ist wurde es nur mit Plastikhandschuhen angefasst.  

IM PFELEGEHEIM GAB ES EINE TOMBOLA. UNTER DEN PFELGERINNEN WURDE EIN URLAUB IN EINEM WELLNESS HOTEL VERLOST ALS DANKESCHÖN FÜR DIE HARTE ARBEIT DIE WIR FRAUEN IN DEN LETZTEN WOCHEN GELEISTET HABEN.  

Ich schlage mit der flachen Hand auf den Tisch. In meinem Bauch zuckt es. Am Display meines Handys lese ich:  

WIR SIND ALLE MITEINANDER VERBUNDEN

DURCH DAS MEDIUM DER SPEICHELTRÖPFCHEN.