Gesellschaft | Gastbeitrag

Statt Schwarzsehen für die Jugend

Fordern wir bitte von der Jugend ein, sich noch ein halbes oder dreiviertel Jahr lang ungefährlich zu verhalten. Aus Respekt, Solidarität oder einfach aus Dankbarkeit.
Jugend
Foto: Vince Fleming on Unsplash

Das Forum Prävention, erklärt in der Südtiroler Tageszeitung vom 30. Oktober auf der Titelseite:  „Ich sehe schwarz für die Jugend“. Am 3. Juni hatte es sich mit einem Livetalk zu Wort gemeldet, mit dem eingängigen Titel: „Phase 2: Kinder, Jugendliche und alte Menschen - Was läuft gerade schief?“. Verschiedentlich hat es sich vehement gegen die Einschränkungen durch Corona gewandt, Öffnung und Freiheit für alle gefordert, vor allem aber für die Jugend.

Als Experten des Psychischen wissen wir natürlich, wie wichtig es ist, selbst lärmen und klagen zu dürfen, und wie gut es tut, gegen etwas zu sein und Dampf abzulassen. Da spricht man vielen aus dem Herzen. Das ist die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere ist: Wir stehen gewaltig unter Druck. Es geht jetzt vor allem um Botschaften, die alle betreffen, und die uns später freier machen können, wenn wir sie jetzt beherzigen.

Die Einsatzleitung von PSYHELP erlaubt sich, diese zweite, im Augenblick wichtigere Hälfte des Anliegens zu ergänzen. Wie lernt die Jugend auf dunklem Hintergrund wieder klar und farbig zu sehen? Das Thema ist komplexer, psychologischer, soziologischer, wissenschaftlicher, als die bloße Schlagzeile.

Die vom Forum Prävention zitierte Studie mit der Südtiroler Statistik wurde von unserem wissenschaftlichen Experten Dr. Roland Keim rechnerisch nachevaluiert. Zum Glück lässt sich daraus kein gesicherter schwerer Leidenstrend für die Jugend ableiten. Das Schwarzsehen liegt also in dem Fall mehr im Auge der Betrachter. Vor allem fehlen absolut die Vergleichswerte mit anderen Gegenden (z.B. Norditalien, China, Österreich, Deutschland) und mit anderen, ähnlich schwierigen Situationen. Die Coronapandemie ist auch forschungsgeschichtlich gesehen eine Premiere. Die Pestepidemien fanden noch im vorwissenschaftlichen Zeitalter statt. Das Erdbeben von Lissabon, das alle großen Geister von Kant bis Goethe erschütterte, war dagegen vergleichsweise kurz, punktuell und einfach zu verdauen. Ebola konnte dank amerikanischer Ringimpfung in Afrika rasch eingeschränkt werden. Corona ist anders, und verlangt mehr präzise Daten und in deren Ermangelung mehr aufmunternde Intelligenz von uns.

Die Jugend wird sich auf Gespräche einlassen, die kritisch und tiefschürfend sind und die vorher vom frenetischen Alltag verschluckt worden waren

Intelligenz ist das, was ich tue, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Gehen wir einfach von intelligenter, anpassungsfähiger Jugend aus. Sie wird sich, weil sie weiß, was für die gesamte Menschheit, eben die gesamte Menschheit, auf dem Spiel steht, in Zukunft den Regeln des sozialen Abstandes freiwillig noch genauer unterwerfen. Bereitwillig und klug. Weil erwachsene Experten ihr immer wieder und wieder beteuern, dass sonst das Risiko zu groß ist. Sie wird sich dort Ventile schaffen, wo sie risikoarm sind, im Individualsport: Jogging, Radfahren, Workouts, einsame Hometrainer und Stretchinggeräte sind jetzt Trumpf. Sie wird kreative Muße wiederentdecken, Tagebuchschreiben, Zeichnen, Lesen. Sie wird den Wert eines geregelten Tagesablaufes erkennen, die gesicherten Mahlzeiten intensiver zelebrieren, sich um Tischmanieren bemühen, überhaupt die Höflichkeit neu aktivieren, Bitte und Danke, und Respekt gegenüber den Älteren und Eltern und Erfahreneren zeigen. Sie wird sich auf Gespräche einlassen, die kritisch und tiefschürfend sind und die vorher vom frenetischen Alltag verschluckt worden waren. Sie wird das Tagträumen praktizieren, und leider entdecken, dass es häufig in den Trübsinn führt. Sie wird sich deshalb aktiv zurückführen ins Hier und Jetzt, vielleicht mit ausgelassener Musik, Tanz, Aerobic, Boxen, Karate gegen Luftgegner. Vielleicht lernt sie sogar das ABC des Meditierens, also die losgelöste Selbstbeobachtung der eigenen Atmung, wie sie von alleine erfolgt. Nicht zuletzt wird die Jugend virtuelle Verknüpfungen, Internet und soziale Netzwerke deutlicher und bewusster nutzen, angehalten durch die im Augenblick darunter stöhnende Schule. Das elektronische Gebiet ist eine Entdeckungsreise für jedermann. Alte quälen sich da oft durch, Junge können es besser genießen. Und es verschafft Wissen und ungefährliche soziale Kontakte. Es vermittelt auch Hilfestellungen.

Eine solche ist unsere Webseite „dubistnichtallein“, die wir als klinische Fachleute mit der Hilfe einer Elektronikfirma und des Forum Prävention in nur 14 Tagen Bauzeit geschaffen haben, und die im ersten Lockdown 45.000 Mal angeklickt wurde. Sie geht aus von schwierigen Gefühlen und Situationen, und führt hin zu häufig hilfreichen Verhaltensweisen, schlägt die Brücke vom „mir gehts nicht gut“ zum „was mancher andere tut“. Und steuert eine lange Liste an möglichen Anlaufstellen bei, für den Fall, dass sie benötigt werden. Um die Hemmschwelle der Verwendung möglichst niedrig zu halten, um die Breite des Angebots zu verdeutlichen und um möglichst präzise Hilfe zu vermitteln, im Dschungel der Psychologie.

Es geht jetzt vor allem um Botschaften, die alle betreffen, und die uns später freier machen können, wenn wir sie jetzt beherzigen

Als Psychologen, Ärzte und Therapeuten wissen wir, dass die Jugend sehr flexibel Ereignisse verdauen und vergessen kann. Sie hat bestimmte Zentren des Stirnhirns noch nicht ausgereift, tendiert also zu impulsiven Gefühlsausdrücken, zu wenig gebremsten emotionalen Reaktionen. Heute geht man dagegen nicht mehr mit strengen Benimmdichregeln der Schwarzen Pädagogik vor, sondern lässt zu, dass sich das Ganze durch Vorbilder, gesellschaftlichen Einfluss und Hirnphysiologie glättet. Fordern wir deshalb bitte von der Jugend klar und eindeutig ein, sich noch ein halbes oder dreiviertel Jahr lang ungefährlich zu verhalten. Aus Respekt vor dem Alter. Als Solidaritätsleistung anderen gegenüber, die man nicht kennt, die aber weniger Killerzellen und ein schwächeres Abwehrsystem besitzen. Oder einfach aus Dankbarkeit jenen gegenüber, die sich als Helfer selber in Gefahr begeben, und ihr entschlossen und umsichtig begegnen.

Denken wir doch an danach. Wie werden wir den Sommer 2021 feiern? Wie wird die Jugend ausbrechen in einen Freiheitsrausch? Sich stürmisch bewegen, kulturell ausbreiten, die Kontinente bereisen, sich zwischen Hautfarben mischen? Die ganze Sehnsucht der körperlichen Annäherung, des Drogenversuchens, der sportlichen Wettkämpfe, der spielerischen Freiheit in Mode, Konsum und Kunst auskosten?

Viktor Frankl war im Konzentrationslager der Nazis und Psychiater. Er stellte sich immer wieder vor, wie er vor vielen Leuten berichten würde, in beheizten Hallen und als gefeierter Redner, was geschehen war und was ihm geholfen hatte. Er sah einen großen Sinn im Überleben und hatte auch das Glück dazu. Gut gelenkte Phantasie ist eine Überlebensstrategie. Füttern wir sie bitte auch mit günstigen Bildern und aufrichtenden Ideen.