Gesellschaft | Porträt

Zwischen Fresken und Jazz

Ein außergewöhnlicher Kustos haucht jeden Samstag den mittelalterlichen Fresken von St. Johann im Dorf Leben ein.
Pichler, Alfred
Foto: Salto.bz
Beim Begriff „Kustos von...“ dachte ich bisher unweigerlich an eine farblose, scheue Figur, die einem stumm die besagte Kirche aufsperrt, ein paar Sätze dazu herunterleiert und hinter uns wieder zusperrt. Dann aber traf ich Herrn Alfred Pichler: der Kustos von St. Johann im Dorf ist so inhaltsstark und beeindruckend wie die Fresken, die er in seinen kostenlosen Samstagsführungen erklärt. 
Ich bin 85 Jahre alt, da merkt man, dass einiges nicht mehr so flott geht wie früher“, sagt er mit erstaunlich junger Stimme; seine grünbraunen Augen blinzeln dabei freundlich hinter der modernen königsblauen Brille. Von großer Statur und mit aufrechtem Gang vermittelt er - in Trekkingkleidung und mit digitaler Polar Athletenuhr am Arm - sein großes Wissen über die Fresken und die Kirche. Alfreds Vergangenheit als Lehrer und Radiosprecher erfahre ich erst später im Gespräch, aber eigentlich hätte ich es mir denken können: er erklärt komplexe Szenen mit Parallelen aus dem täglichen Leben, fängt mit seiner Stimmlage immer wieder die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer ein, lockert ab und zu die Inhalte mit einem kleinen Scherz. Die Gruppe lauscht seinen Worten neugierig wie eine junge Schulklasse und andächtig wie ein Jazzliebhaber.  
 
 
Viele verschiedene Leute sind in die kleine Kirche gekommen, 29 zählt die Strichliste der freiwilligen Helfer des Touring Club Italiano an diesem Samstagvormittag. Das Kulturtouristenpaar aus Norditalien, sie im weißen Leinenkleid und Bernsteinkette, er mit kariertem Kurzarmhemd und Bügelfalte in der Hose, ist extra dafür angereist. Sie wissen schon gut Bescheid über die Kirche, während für uns die Figuren aus den apokryphen Evangelien komplett neu sind und erst dank Alfreds Führung zum Aha-Erlebnis werden. Zwei skandinavische Rucksacktouristen gesellen sich dazu, sie haben im Internet die Rezensionen über dieses mittelalterliche Kleinod abseits der Bozner Touristenströme gelesen. St. Johann im Dorf ist ein Geheimtipp: um die kleine Kirche herum ist alles sehr dicht bebaut und wenn man nicht mit Absicht in die enge Gasse hineingeht, würde man die Kirche nicht einmal bemerken. Ein junges italienisches Touristenpaar mit Kinderwagen, das eigentlich den Weg in die Innenstadt suchte, stolpert zufällig herein und kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Aber es gibt auch einheimische Besucher: eine Anwohnerin stellt mit gewohnten Bewegungen ihr Fahrrad vor der Kirche ab, setzt sich für einen kurzen Moment der Ruhe in die letzte Bank, saugt die Fresken in sich auf und geht wieder.
Herr Alfred macht die Führungen abwechselnd auf Deutsch, Italienisch und Englisch. Ab und zu pausiert er mitten im Satz, weil ihm ein bestimmtes Wort nicht einfällt. Mit einem verschmitzten Lächeln sagt er dann: „Selbst Galaxien und Sterne werden älter, nur beim Menschen geht es leider sehr viel schneller!“ und erzählt unbeirrt weiter.
 
 
Meinem Vorurteil über Kustoden zum Trotz ist Herr Alfred ist ein so eloquenter und vielschichtiger Zeitzeuge, dass man ihm stundenlang zuhören könnte. Ich möchte noch ein bisschen mehr erfahren und bitte ihn um ein Interview:
 
Salto.bz: Herr Pichler, was sind Ihre Aufgaben als Kustos?
 
Alfred Pichler: Jeden Samstag mache ich von 10 bis 12.30 Uhr die Führungen. Als ich die Führungen übernommen habe wusste ich gar nichts über die Kirche und habe mich erst einlesen müssen. Bei meinen Recherchen habe ich dann interessante Details rausgefunden, wie zum Beispiel, dass hier der erste Adventskranz Südtirols entstanden ist. Ich komme jeden Tag hierher, um nach dem rechten zu sehen. Die Kirche ist im Winter nicht zu heizen, dann sinkt die Innentemperatur auf vier Grad, da muss ich mich schon warm anziehen. Ich komme dann her, wische den Staub ab, staubsauge und kontrolliere die Feuchtigkeitsmesser.
 
Die Feuchtigkeit ist ein Problem für die Kirche?
 
Die Feuchtigkeit ist besonders für die Fresken gefährlich. Man weiß leider noch nicht genau, ob es nur Kondenswasser ist, oder ob da drunter ein unterirdischer Bach fließt. Schwester Reinhilde, die hier in der Nähe wohnt, hat mir erzählt, dass sie vor vielen Jahren den Weihbischof Heinrich Forer begleitet hat, der Hobby-Wünschelrutengänger war: hier vor dem Altar hat ihm die Wünschelrute wie wild ausgeschlagen.
 
Was haben Sie gemacht bevor Sie Kustos von St. Johann wurden?
 
Ich war Englischlehrer an der Handelsoberschule und an der Marienschule/Kindergärtnerinnenschule. Dort habe ich damals auch meine Frau kennengelernt und wir haben zwei Söhne und eine Tochter. Neben der Schule habe ich 60 Jahre lang (!) die Jazzsendung beim RAI Sender Bozen moderiert. Nach der Pensionierung haben meine Frau und ich dann neun Jahre als Leihoma und -opa auf das Kind der Nachbarin geschaut, während sie arbeiten ging. Das ging bis 2012, dann habe ich hier in St. Johann angefangen. Ich hatte immer viel zu tun, das war mein großes Glück!
 
Nach der Pensionierung haben meine Frau und ich dann neun Jahre als Leihoma und -opa auf das Kind der Nachbarin geschaut,
 
 
Sie sind in Bozen aufgewachsen?
 
Ich bin 1940 eingeschult worden und da hat meine Mutter gesagt „wir leben in Italien, du musst Italienisch können“, deshalb ging ich am Vormittag in die italienische Volksschule und am Nachmittag in die deutsche. Abends machte ich für beide Schulen die Aufgaben. Das ging drei Jahre lang so. Dann, Anfang September 1943, ist Bozen das erste Mal bombardiert worden. Wir waren da gerade in der Sommerfrische auf einem Hof in Unterinn. So ist aus der Sommerfrische eine „Bombenfrische“ geworden und ich bin in Unterinn zwei Jahre lang zur Schule gegangen.
Als Mai 1945 der Krieg zu Ende war sind wir wieder in die Stadt gekommen. Da gab es aber nicht viele Schulmöglichkeiten und meine Eltern haben gesagt: „Wir besitzen nichts, das Einzige was wir dir mitgeben können ist eine Bildung“ und haben mich ins Franziskanergymnasium eingeschrieben.
 
Warum sind sie gerade Englischlehrer geworden?
 
Es hieß damals schon, mit Sprachen kommt man immer weiter, deshalb habe ich schon ab der sechsten Klasse Privatunterricht in Englisch genommen. Das war damals noch sehr außergewöhnlich, denn die Zeiten waren hart und eine solche Ausgabe hieß, dass man an anderer Stelle wirklich sparen muss. Nach der Matura habe ich in Mailand an der Bocconi Universität Sprachen studiert. Dort hatte ich einen jazzbegeisterten Studienkollegen, den habe ich begleitet, wenn er neue Platten kaufte und mich dabei in die Stücke hineingehört: Westcoast Jazz, Shelly Manne usw. So entstand meine Liebe zum Jazz und ich wurde Mitglied beim Plattenclub Orpheus.
 
Und wie kamen Sie zu Ihrer eigenen Jazz-Sendung?
 
Ich habe kurz an der Leonardo Da Vinci Schule unterrichtet, da kam der Direktor Hermann Vigl und fragte, ob ich jemanden kenne, der 34 Jazzsendungen übersetzen könnte, die die RAI  von einem Triestiner gekauft hatte. Ich habe diese Übersetzung übernommen. Die Arbeit kam gut an und ab da war ich mit „Jazz Corner“ 60 Jahre lang  auf Sendung. Sogar während meiner eineinhalb Jahre Militärdienst habe ich die Sendungen nahtlos weitergemacht.
Ich  war  mit „Jazz Corner“ 60 Jahre lang  auf Sendung. Sogar während meiner eineinhalb Jahre Militärdienst habe ich die Sendungen nahtlos weitergemacht.
Wie ging denn das?
 
Ich war bei den Alpini in Belluno; natürlich hatte ich nur sehr wenig Urlaub, aber ich konnte es so einrichten, dass ich alle 3-4 Wochen nach Bozen kam, um die Sendungen für die nächsten Wochen aufzunehmen. Am Freitagabend fuhr ich mit dem Bus aus Belluno los, am Samstag habe ich sie vorbereitet, Montagfrüh habe ich die Sendungen aufgenommen und Montagabend war ich wieder in der Kaserne.
 
Eine Ihrer alten Lieblingsplatten?
 
Eine Kollegin, der ich geholfen hatte sich auf eine Deutschprüfung vorzubereiten, hat mir damals von Mahalia Jackson "In the Upper Room" geschenkt. Das ist jazziger Spiritual, das ist wirklich großartige Musik!