Politik | Russische Rätsel

Zu viel Tatort geschaut!

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel tut gut daran, sich im Fall des Giftanschlags auf Kreml-Kritiker Nawalny nicht als Oberkommissarin hervorzutun.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Persönlich kann ich durchaus der Auffassung sein, dass Alexej Nawalny Opfer eines vom Kreml zu verantwortenden Attentats wurde, aber nicht als ausländischer Staat oder NATO-Verbund Sanktionen gegen Russland erwägen, wenn es nicht umgehend ernsthafte Bemühungen an den Tag legt, um den xten Giftanschlag auf politische Gegner Putins aufzuklären.

Was soll die OVCW überprüfen?

Die Berufung auf internationales Recht würde es vielmehr erfordern, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) einzuschalten. Doch hier geht es nicht um die Inspektion von Fabriken in Russland, die womöglich Nowitschok herstellen, sondern um einen Giftanschlag auf einen russischen Bürger auf russischem Territorium.

Mit der im März vom Parlament beschlossenen und im Sommer per Volksabstimmung mit einer Zustimmung von fast 78% genehmigten Verfassungsänderung hat sich Putin die Möglichkeit gesichert, bis 2036 im Amt zu bleiben. Die Volksabstimmung hat seiner Machtposition einen zusätzlichen demokratischen Anstrich verliehen. Nawalny hat in Zweifel gezogen, dass die Abstimmung korrekt abgelaufen ist und angekündigt, dass er das Ergebnis niemals anerkennen wird. Auf internationaler Ebene ist im Zusammenhang mit der Volksabstimmung von Merkwürdigkeiten gesprochen und das mit der Verfassungsreform im Eiltempo durch die Entscheidungsgremien geschleuste Konzept des Superpräsidentialismus kritisiert worden.

Beweisführung nahezu unmöglich

Die Ansammlung von Indizien, auch mit Bezug auf die Vorgangsweise bei der Ausschaltung anderer Systemgegner, mag für eine Verwicklung des Kreml sprechen. Doch eine Beweisführung ist nahezu unmöglich, vor allem was die in den Raum gestellte Vermutung betrifft, Putin selbst hätte angeordnet, Nawalny aus dem Weg zu räumen. Wie soll ein entsprechender Entscheidungsweg nachgewiesen werden? Rein formal gesehen hatte Putin seine Machtposition bereits zementiert. Die Kritik Nawalnys könnte ihn kaltlassen.

Putin weist eine umfassende Machtfülle auf. Im großen Russland hat er aber nicht alles und jeden ständig unter Kontrolle. Es gibt sicherlich auch niedrigere Chargen im russischen Machtsystem, denen es von Karrierebestreben beseelt in den Sinn kommen könnte, in vorauseilendem Gehorsam politische Gegner zu eliminieren und damit Putin auf sich aufmerksam zu machen. Angenommen, es käme zu offiziellen Nachforschungen seitens der russischen Behörden, so könnten diese den Täter identifizieren, für die öffentliche Meinung einen Sündenbock liefern oder einfach ins Leere laufen.

Solidarität mit dem russischen Volk

Da gibt es für die EU und die NATO nichts zu gewinnen. Die Beziehungen zu Russland stehen auf ganz einem anderen Blatt und können nicht an diesem Problemfall der Demokratie in Russland festgemacht werden, so abscheulich die Tat war. Europa braucht gute und stabile Beziehungen zu Russland. Eine gute Nachbarschaft ist für die Menschen in Russland von großer Bedeutung, die unter der Fuchtel Putins stehen, und für ihren Traum von mehr Demokratie. Nawalny ist nur ein Beispiel für die systematische Unterdrückung der Demokratie in Russland. Der Kreml wird nicht an diesem Fall vom Saulus zum Paulus mutieren.

Anstatt sich den Unwägbarkeiten der Eigendynamik russischer Aufklärungsanstrengungen auszusetzen sollte bedacht werden, dass dem russischen Volk mehr gedient ist, wenn es kontinuierlich im wirtschaftlichen Aufbau und in der Demokratisierung unterstützt wird. Die Realisierung der North-Stream-Gasleitung sollte folglich nicht von der vermeintlich wirksamen Klärung des Giftattentats abhängig gemacht werden, sondern von pragmatischen Interessenabwägungen zum Energiebedarf.