Politik | Nie wieder?

Gaza: die Vertreibung in der Endphase

Mit der Eroberung von Gaza City setzt Israels Regierung zum letzten Schritt ihrer Strategie an: durch Vertreibung der angestammten Bewohner das „Eretz Israel" schaffen.
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Zizernakaberd in Yerevan
Foto: Thomas Benedikter
  • Durch die vollständige Zerstörung des Gazastreifens sollen die Palästinenser vertrieben und in Lagern im Süden Gazas konzentriert werden, wo sie mit internationaler Hilfe dahinvegetieren dürfen, sofern sie nicht in ein Nachbarland ausgesiedelt werden. War der Gazakrieg zunächst die Reaktion auf einen terroristischen Angriff, wurde er rasch zur militärischen Strafaktion gegen ein ganzes Volk, eine kollektive Vergeltung gegen wehrlose Zivilisten, was selbst vom Kriegsrecht verboten wird. Schließlich die jetzige ethnische Säuberung, wie sie von der israelischen Rechten zur Schaffung ihres „Eretz Israel“ schon lange propagiert wird. Als übernächster Schritt die Annexion und Besetzung des Westjordanlands. Aus der Sicht der Regierung Netanjahu scheint der richtige Moment für diese Art von Endlösung gekommen zu sein.

    Dabei war und ist die Hamas militärisch längst am Ende: sie hält nicht nur 50 Israeli als Geiseln, sondern auch die eigenen Landsleute, wissend, dass es für Netanjahu belanglos ist, wie viele Palästinenser noch massakriert werden, um die Hamas zu eliminieren. Doch rechtfertigt das Verhalten einer im Untergrund verschanzten Terrormiliz nicht die Bombardierung von Kliniken, Schulen, Pressebüros und Flüchtlingslagern oder gar die Aushungerung eines ganzen Volks wie es zuletzt bei der Leningrader Blockade 1941-1944 (1 Million Opfer) geschah. Völkermord kann nicht mit der Verfolgung einer Terrorbande gerechtfertigt werden.

    Heute gibt es neben Gaza weitere 55 kleinere und größere Kriege auf der Welt. Doch Israels Vernichtungskrieg in Gaza bildet eine Ausnahme: er hat keinen militärischen Zweck mehr, sondern Vertreibung. Jede Menschlichkeit hat aufgehört, Völkerrecht ist ausgesetzt. Es hat den Anschein, als wären die Nachfahren eines Völkermords von der Geltung der Konvention zur Verhütung von Völkermord von 1948 ausgenommen, die Israel 1951 ratifiziert hat. Das Papier ist für Israel Schall und Rauch, doch führt sein Vorgehen in Gaza auch zu Kernfragen des Selbstverständnisses der übrigen Staaten, die das Völkerrecht ratifiziert haben. Was sind „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wenn nicht die unerbittliche Grausamkeit Israels in Gaza? Was ist Völkermord, wenn nicht die gezielte Aushungerung von zwei Millionen Menschen? Was ist „Entmenschlichung“, wenn wehrlose Menschen, die um Essen anstehen, zum Abschuss durch israelische Soldaten freigegeben und zu Tausenden abgeknallt werden?

    Dabei ist in Europa nach dem Schrecken von Weltkrieg und Holocaust immer wieder beschworen worden: „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Faschismus!“ Wenn jetzt mit Unterstützung Europas dieselben Verbrechen wie damals begangen werden, waren dann 80 Jahre Aufarbeitung der Naziverbrechen nur hohle Gedenkrhetorik? Wenn das Verbot der Tötung von Zivilisten durch einen Staat widerspruch- und straflos außer Kraft gesetzt wird, wie seit zwei Jahren in Gaza, wo bleiben die Grundlagen des westlichen Rechtsverständnisses?

    Wir Europäer sind zwar nicht unmittelbare Täter, aber Teil des Systems, wie von Francesca Albanese nachgewiesen. Die EU hat keinerlei Sanktionen gegen Israel ergriffen, nicht mal ihr Assoziierungsabkommen mit Israel ausgesetzt. Im Gegenteil: die Machthaber in Tel Aviv  haben die EU-Regierungen mit der Antisemitismuskeule gekonnt mundtot gemacht und wenn eine EU-Kommissarin wie kürzlich Teresa Ribera das Geschehen beim Namen nennt, wird sie hochoffiziell von der EU-Kommission zurückgepfiffen.

    Natürlich gibt es in Europa auch breiten Widerstand gegen den israelischen Völkermord und zahlreiche Hilfsaktionen wie jetzt die Global Sumud Flotilla, die von Israel militärisch blockiert werden. Doch entscheidend ist, was Regierungen unternehmen, was Parlamente beschließen, wie in Israel präsente Unternehmen handeln. Sie tun konkret nichts. Man lässt diesen militärischen Außenposten der USA mit Lizenz zum Völkermord Fakten setzten, sieht weder als EU noch als NATO einen Anlass zum Eingreifen, wie es etwa 2003 in Afghanistan, 1999 im Kosovo oder 1995 in Bosnien der Fall war. Wenn das „Drecksgeschäft“ (F. Merz) erledigt ist, wird man zum Tagesgeschäft mit Israel zurückkehren.

    Die Mahnung „Nie wieder!“ steht immer wieder an Gedenkstätten an Völkermord zu lesen. Vor 40 Jahren las ich diesen Aufruf in Auschwitz. Vor 36 Jahren in Yad Vashem in Jerusalem, begegnete dann in Gaza während der ersten Intifada jugendlichen Steinewerfern, denen die Israeli die Knochen zerschlagen hatten. Vor 30 Jahren sah ich den Aufruf im ex-KZ Mauthausen bei Linz, auch wieder in Sarajevo vor 30 Jahren. Vor 10 Jahren las ich im ehemaligen KZ Buchenwald diesen Spruch und heuer war ich im Zizernakaberd in Yerevan (siehe Bild oben), im Denkmalkomplex zur Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern 1915, wo auch anderen Völkermorden im 20. Jahrhundert gedacht wird. Dieser Tatbestand wird bis heute von der damaligen Täternation geleugnet, genauso wie Israel es heute tut. „Nie wieder“: Welchen Sinn soll ein solcher Appell haben als jenen, vor allem alle Menschen mit politischer Verantwortung und Regierungen, die die Völkermordkonvention gezeichnet haben, darauf zu verpflichten, Völkermord nicht mehr zuzulassen? Und doch geschieht es mit militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung der demokratischen Staaten im Westen. Ein leerer Satz, der nichts mehr bedeutet?