Yarmuk, Srebrenica, Sabra und Schatila
Die Palästinenserfrage hat bisher die Muslime in aller Welt geeint. Solidarität mit dem heimatlosen und in Flüchtlingslagern aufgeteilten Volk galt selbst radikalen Islamisten als moralisch-religiöse Pflicht. Dieses Prinzip ist nun erstmals von den Schergen des islamischen Staates missachtet worden. Und zwar ausgerechnet in der langjährigen sogenannten Haupstadt der Palästinenser, dem bei Damaskus liegenden Flüchtlingslager Yarmuk, in dem bis zum Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 160.000 Flüchtlinge lebten.
Am Montag enthaupteten die IS-Terroristen den Imam des Lagers, Yahya Hourani, die höchste religiöse Autorität der Flüchtlingsstadt. Sein Kopf wurde auf einen Pfahl gesteckt, um den entsetzten Flüchtlingen zu zeigen, wie mit Ungehorsamen umgegangen wird. Menschen wurden erschossen, geköpft und gefoltert. Die Zahl der ermordeten Flüchtlinge schwankt zwischen mehreren hundert und mindestens tausend . Unter ihnen : alte Menschen, viele Frauen und Kinder.
Eigentlich ist die im Flüchtlingslager präsente palästinensische Befreiungsbewegung Hamas für die Sicherheit in Yarmuk zuständig. Doch bisher ist es ihr nicht gelungen, die Angreifer zurückzudrängen, die bereits 80 Prozent der Flüchtlingsstadt erobert haben. Die beiden Fronten stehen sich gegenüber, die Flüchtlinge sind eingeschlossen.
Die humanitäre Lage der Eingeschlossenen wird als grauenhaft bezeichnet. Es fehlt an Nahrung, Wasser und Medikamenten. Helfer und Ärzte, die im Flüchtlingslager ihren Dienst versahen, wurden ebenfalls ermordet. Die UNO appellierte an die Verantwortlichen, einen humanitären Korridor zu schaffen, um lebensnotwendige Güter ins Lager zu bringen.
Die Blutorgie vor den Toren der syrischen Hauptstadt geht weiter und die geschockte westliche Welt schaut zu - oder weg. So wie es im jugoslawischen Bürgerkrieg geschah, als UNO-Blauhelme tatenlos zusahen, wie serbische Milizen in Sebrenica hunderte bosnischer Zivilisten ermordeten.
Dass die Terroristen des Islamischen Staates über Nacht vor Damaskus standen, war den Geheimdiensten, Spähsatelliten und hochbezahlten Analysten wieder einmal entgangen. Es sei denn, es geschah mit Absicht , um dieses Massaker zuzulassen .
Denn es spaltet die islamische Welt noch weiter auf , während sich die Terrorgruppen der radikalen Islamisten zusammenschliessen. Der syrische Al Kaida Ableger Al Nusra hat sich dem Kalifen Al Baghdadi unterworfen. Dasselbe geschah mit libyschen und somalischen Al-Kaida-Gruppen, die sich in den letzten Tagen und Wochen dem Islamischen Staat angeschlossen haben. Dieser Terror-Bund hat jetzt die kämpferischen Palästinenserbewegungen zum Feind, die in subversiven Aktionen nicht gerade unerfahren sind.
Letzthin kursieren Theorien, wonach es einen unausgesprochenen Nicht-Angriffspakt zwischen dem Islamischen Staat und Israel gebe - ich persönlich halte dies für ziemlichen Unsinn. Diese Theorien gehen davon aus, dass der IS und Israel einen gemeinsamen Hauptfeind haben: nämlich den Iran. Dass der Iran vor wenigen Tagen von den Weltmächten für salonfähig erklärt wurde, weil er der Atombombe abgeschworen hat, macht die Sache für den IS und Israel nur schlimmer.
Auch der IS- Angriff auf das Palästinenserlager Yarmuk verführt zu gefährlichen Rückschlüssen: hat nicht auch Israel 1982 unter der Regie des damaligen israelischen Verteidigungsminister Ariel Scharon ein Palästinenserlager vernichtet ? Das Massaker von Sabra und Schatila , das von christlichen Phalangisten des Libanon ausgeführt wurde, bleibt ein Schandfleck für Israel. Doch in Israel gab es einen Untersuchungsschuss, der Ariel Sharon zum Rücktritt veranlasste.
Der Chef der libanesischen Phalangisten, Elie Hobeika, der für das Blutbad verantwortlich war, blieb dagegen unbehelligt. Er wurde später sogar Minister. Und die jordanische Königsfamilie, die 1970 bei der Operation Schwarzer September über 3000 Palästinenser ermorden liess, wurde international nie geächtet, sondern geradezu hofiert.