Politik | Rückschritt

Quo vadis, Austria?

Österreich gilt für Experten nicht mehr als liberale Demokratie. Weltweit ist eine Autokratisierung zu beobachten. Um demokratische Standards ist es bestellt wie 1989.
Österreich
Foto: Quaritsch Photography on Unsplash

Im Nachbarland geht seit Kurzem ein Gespenst um. Das der “Wahldemokratie”. Anlass dafür ist der Demokratiebericht, den das V-Dem-Institut an der schwedischen Universität Göteborg alljährlich herausgibt. In der aktuellen Ausgabe für 2021 sieht sich Österreich von einer liberalen Demokratie zur Wahldemokratie herabgestuft. Die Chefredakteurin des Wochenmagazins profil Edith Meinhart spricht von einem “düsteren Befund”. Der gilt allerdings nicht nur für die Alpenrepublik. Sondern für die Demokratie weltweit.

 

Dreißigjähriger Rückschritt 

 

Die Demokratie ist global gesehen auf dem Rückzug und 2021 auf dem Niveau von 1989 angelangt. “Die vergangenen 30 Jahre an demokratischem Fortschritt ist jetzt ausgemerzt.” Zu diesem Schluss kommen die Autoren des Democracy Report 2022, an dem 3.700 Forscher aus der ganzen Welt gearbeitet haben. Waren es 2012 noch 42 Länder, die als “liberale Demokratien” eingestuft wurden, so sind es 2021 nur mehr 34 – so wenige wie seit über 25 Jahren nicht mehr. 70 Prozent der Weltbevölkerung leben in Autokratien – 2011 waren es noch 49 Prozent gewesen. Die Autokratisierung schreitet auch in der Europäischen Union fort, laut dem schwedischen Demokratiebericht sind sechs der 27 EU-Staaten betroffen: Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien, Kroatien, Griechenland. Aber auch andere europäische Länder und östliche EU-Nachbarstaaten driften ab: Serbien, Türkei, Weißrussland.

Woran machen die Experten diese Entwicklung in Europa fest? Vor allem an der Beschneidung der Meinungsfreiheit und der Kontrolle der Regierungen durch die Parlamente, aber auch an weniger freien Wahlen und der abnehmenden Rechtsstaatlichkeit. In Polen und Ungarn kommt die massive Kontrolle der Medien durch die regierenden Parteien – PiS und die eben wiederbestätigte Fidesz von Viktor Orbán – und die damit einhergehende Beeinflussung der öffentlichen Meinung und von Wahlen dazu.

 

Die Rolle der Pandemie

 

Könnte die schwindende Demokratisierung mit der Covid-19-Pandemie zu tun haben? Auch diese Frage beantworten die Autoren im Bericht: “Die Pandemie hatte nur begrenzte direkte Auswirkungen auf den Abwärtstrend der Demokratie. Während die Führer einiger Länder die Pandemie zur Machtkonsolidierung nutzten, hatte die Autokratisierung in der Regel bereits vorher stattgefunden.” Allerdings sei es “zu erheblichen Verstößen gegen internationale Standards für das, was Regierungen als Reaktion auf eine Pandemie tun dürfen” gekommen.

 

57 Länder hätten zwischen März 2020 und Juni 2021 mäßige Verstöße und 44 Länder erhebliche Verstöße gegen die internationalen Normen zu verzeichnen. “Die meisten dieser Verstöße traten in autokratischen Ländern auf.” Den demokratischen Rückfall während der Corona-Pandemie hat das V-Dem-Institut in einem eigenen Kurzbericht (zum Download der pdf-Datei) behandelt.

 

Österreich und die Transparenz

 

Während Italien laut Democracy Report 2022 unverändert als liberale Demokratie gilt und den Verfassern keine nähere Betrachtung wert ist, wird Österreich an für Beobachter unerwarteter Stelle erwähnt.

Der Bericht teilt die 179 Länder aufgrund von 71 Indikatoren in vier Kategorien ein: zwei Formen der Demokratie (liberale Demokratie und Wahldemokratie) und zwei Formen der Autokratie (Wahlautokratie, abgeschottete Autokratie). Die jeweiligen Regime werden folgendermaßen definiert:

  • In abgeschotteten Autokratien (“closed autocracy”) übt eine Person oder eine Gruppe von Personen weitgehend unkontrolliert von der Bevölkerung Macht aus.
  • In Wahlautokratien (“electoral autocracy”) gibt es Institutionen, die Demokratie nachahmen, aber in Bezug auf Authentizität und Qualität deutlich unter der Schwelle zur Demokratie liegen.
  • Um als minimal demokratisch zu gelten, d.h. als Wahldemokratie (“electoral democracy”) zu gelten, muss ein Land ein ausreichend hohes Niveau an freien und fairen Wahlen sowie allgemeines Wahlrecht, Meinungs- und Versammlungsfreiheit haben. Die Durchführung von Wahlen allein reicht aber nicht aus, um ein Land als demokratisch zu betrachten. 
  • Länder, in denen liberale Aspekte (Einschränkung der Exekutive durch die Legislative und Höchstgerichte, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Rechte) zusätzlich zu den Anforderungen der Wahldemokratie erfüllt sind, werden als liberale Demokratien (“liberal democracy”) bezeichnet.

Zwischen 2011 und 2021 sind elf Staaten eine Kategorie aufgestiegen: Barbados, Bhutan, Seychellen (von Wahldemokratie auf liberale Demokratie), Armenien, Guinea-Bissau, Kosovo, Nordmazedonien, Sri Lanka, Ukraine (von Wahlautokratie auf Wahldemokratie), Fidschi, Madagaskar (von Autokratie auf Wahlautokratie). Zugleich sind in den vergangenen zehn Jahren gleich 33 Staaten eine Kategorie abgestiegen: Afghanistan, Tschad, Guinea, Mali, Myanmar, Sudan, Syrien, Thailand, Usbekistan, Vietnam, Jemen (von Wahlautokratie auf Autokratie), Albanien, Benin, El Salvador, Ungarn, Indien, Libanon, Montenegro, Philippinen, Serbien, Türkei, Sambia (von Wahldemokratie auf Wahlautokratie), Tschechien, Ghana, Litauen, Mauritius, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Südafrika, Trinidad und Tobago – und Österreich (von liberale Demokratie auf Wahldemokratie).

 

Auf Seite 14 erklären die Verfasser, weshalb Österreich nur mehr als Wahldemokratie zu verstehen sei: “Ein deutlicher Rückgang beim Indikator für transparente Gesetze und der vorhersehbaren Durchsetzung derselben ist eine entscheidende Veränderung, die dazu beigetragen hat, dass Österreich die Kriterien für eine liberale Demokratie nicht mehr erfüllt.”

 

Vorsicht ist geboten

 

Die Opposition in Österreich wittert Gefahr. “Alle Alarmglocken sollten bei den Herrschaften in der Regierung klingeln! Die ÖVP hat unser Land herabgewirtschaftet. Die Grünen lassen das zu. Wir sind keine liberale Demokratie mehr!”, kommentiert etwa NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger den V-Dem-Bericht.

Dabei ist er nicht der einzige, der den Zustand der Demokratie weltweit und in einzelnen Ländern zu messen versucht. Je nachdem, wie Demokratie definiert wird und welche Indikatoren dafür herangezogen werden, schneiden Staaten ganz unterschiedlich ab. Dass und warum Demokratie-Indizes generell mit Vorsicht zu genießen sind, hat die (mittlerweile eingestellte) österreichische Rechercheplattform Addendum 2017 ausführlich aufgezeigt. Unter anderem am Beispiel Russlands: “Nach dem Zerfall der Sowjetunion bewerten drei Indizes die Entwicklung des Landes unterschiedlich – zum Teil sogar konträr. Der Polity-Index etwa sieht das Knüpfen wirtschaftlicher Beziehungen zum Westen, eine selbstbewusste Duma bei umstrittenen Entscheidungen des Präsidenten und einen erfolgreichen Kampf gegen Korruption – und bewertet die Entwicklung entsprechend positiv. Der Freedom House Index sieht hingegen das Aufstreben von Vetternwirtschaft, Zensur und das Anwachsen präsidentieller Macht – und bewertet die Entwicklung entsprechend negativ. Der später gegründete Index des Economist wiederum sieht einen kontinuierlicheren Abwärtstrend. Er fällt dafür nicht so stark ab wie jener von Freedom House.”

Tatsächlich stuft etwa der Economist Österreich anhand seines “Democracy Index” 2021 als “vollständige Demokratie” ein. Während Italien dort als “fehlerhafte Demokratie” gilt.