Gesellschaft | Arbeit

„Das System funktioniert nicht“

Seit Wochen wird in Italien über die Einführung des Mindestlohns diskutiert. Politik und Gewerkschaften sind gespalten. AFI-Direktor Stefan Perini zur aktuellen Situation
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Foto: Pixabay
Schätzungen zufolge erhalten rund 20 Prozent der Lohnabhängigen in Italien weniger als 9 Euro brutto pro Stunde – ein Einkommen, das nicht fürs Auskommen reicht. Somit verwundert es nicht, dass insbesondere die linksgerichteten Parteien die Festsetzung dieser Mindestlohngrenze fordern. Neben Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland zählt Italien nämlich zu jenen Ländern, in denen nicht der Staat den Mindestlohn gesetzlich vorgibt, sondern die Gewerkschaften darüber verhandeln. Flankierend zu den Lohnverhandlungen zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften hat der Staat in 21 EU-Ländern eingegriffen und per Gesetz eine Lohnuntergrenze festgelegt. Der Grund dafür liegt darin, dass die Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmen nicht immer Löhne sicherstellten, von denen die Menschen leben konnten.
 
 
Schätzungen zufolge erhalten rund 20 Prozent der Lohnabhängigen in Italien weniger als 9 Euro brutto pro Stunde.
 
 
Deutschland beispielsweise hat mit 1. Jänner 2015 den gesetzlichen Mindeststundenlohn eingeführt, damals lag er bei 8,50 Euro, heute bei 12 Euro. Dieser gesetzlich festgelegte Mindeststundenlohn ersetzt nicht die Kollektivvertragsverhandlungen, sondern legt lediglich die Grenze fest, die per Gesetz nicht unterschritten werden darf. Mit den Kollektivverträgen werden jedoch nicht nur die Löhne geregelt, sondern auch die Arbeitszeiten, Wartestände, die gewerkschaftlichen Rechte, die betriebsinternen Weiterbildungsmöglichkeiten und der Urlaub. Somit regelt ein Kollektivvertrag nicht nur das Lohnelement, sondern sämtliche Bereiche des Arbeitsverhältnisses. Nachdem die Gewerkschaften es als ihre ureigenste Aufgabe ansehen, die Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen zu führen, ist es nicht weiter überraschend, wenn sie diese Aufgaben bzw. Zuständigkeiten nicht aus der Hand geben wollen.
 
 
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Stefan Perini, Direktor des Arbeitsförderungsinstituts AFI: „Man läuft den Entwicklungen ständig hinterher.“ (Foto: Privat)
 
Wie Stefan Perini, Direktor des Arbeitsförderungsinstituts AFI, erklärt, seien drei Punkte für eine Anhebung des Lohn-Niveaus maßgeblich. Zum einen die Tarif-Bindung bzw. der Prozentsatz der Beschäftigungsverhältnisse, die durch Kollektivverträge geregelt sind. Die Faustregel dabei lautet: Je höher der Grad der Tarif-Bindungen, desto besser. Denn dies, so Perini, sollte eigentlich eine Schutz-Garantie für die Arbeitnehmenden sein. Ein weiterer Knackpunkt betrifft die Frage, wer eigentlich am Verhandlungstisch sitzen darf. Während in einigen Ländern, in denen es Einheitsgewerkschaften gibt, die Verhandlungsteilnehmer prädefiniert sind, ist die Sachlage in Italien weitaus komplizierter. Neben den drei großen Gewerkschaftsbünden CGIL, CISL und UIL gibt es mittlerweile unzählige Gewerkschaften, zu denen auch solche gehören, die „ad hoc“, also eigens für ein spezifisches Projekt wie Milano Expo oder die Olympischen Spiele gegründet werden. Der dritte und letzte Punkt betrifft die zeitlichen Verzögerungen bzw. die Tatsache, dass kein zeitlicher Rahmen für den Abschluss der Verhandlungsführungen festgelegt ist. Während nämlich in Österreich ständige Verhandlungstische eingerichtet sind mit der Auflage, sich mindestens jährlich zu treffen, finden in Italien die kollektivvertraglichen Verhandlungen in der Regel nur alle drei Jahre statt, wobei allerdings selbst dieser Zeitrahmen nicht bindend ist. „Bis man sich darauf geeinigt hat, wer überhaupt am Verhandlungstisch teilnehmen darf und was Gegenstand der Verhandlungen ist, vergehen nicht nur Monate, sondern manchmal sogar Jahre“, schildert Perini die Eigenheiten des italienischen kollektivvertraglichen Systems, „das nicht funktioniert, wie es eigentlich funktionieren sollte“. Das führt dazu, dass Verträge häufig mit großem zeitlichem Verzug verhandelt werden wie beispielsweise aktuell der bereichsübergreifende Kollektivvertrag für den Öffentlichen Dienst (BÜKV) oder wie AFI-Direktor Perini es ausdrückt: „Man läuft den Entwicklungen ständig hinterher.“
 
 

Die Macht der Gewerkschaften

 
Gute Verhandlungsergebnisse hängen zu einem wesentlichen Teil von der „Macht“ der jeweiligen Gewerkschaft ab, die sich in ihrem politischen Einfluss ausdrückt. Bis Ende der 1980er Jahre hinein fungierten die Gewerkschaften als Sprungbrett für ein politisches Amt. „Es gab eine Seilschaft zwischen CGIL und dem Partito Comunista, die CISL entstammt der christdemokratischen Tradition und UIL war Wegbereiter für eine politische Karriere beim Partito Socialista oder Partito Repubblicano. Bei all den Nachteilen wie beispielsweise den Verstrickungen und Interessenskonflikten, waren diese starken Verflechtungen aber auch der Garant dafür, dass die Belange der Gewerkschaften Gehör beim politischen Ansprechpartner fanden“, erklärt Perini.
 
 
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Gewerkschaftsdemonstration: Aufgabe der Gewerkschaften ist es, sich für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen einzusetzen. (Foto: Seehauserfoto)
 
 
Mit dem Tangentopoli-Skandal und dem Niedergang der Democrazia Cristiana in den Jahren 1992 bis 1993 brach dieses System jedoch wie ein Kartenhaus zusammen. In der Folge haben sich die Gewerkschaften von den Parteien gelöst und versucht, politische Unabhängigkeit zu demonstrieren bzw. unabhängig zu agieren. Die Folge davon war allerdings – und das gilt bis heute –, dass es keine direkten Ansprechpartner in der Regierung mehr gibt. „Italien ist jenes Land in der Europäischen Union, in dem in den letzten 20 Jahren die Löhne am wenigsten gestiegen bzw. die weit hinter der Inflation zurückgeblieben sind“, so Perini. Zudem habe es während dieser Zeit auch einen starken Anstieg der prekären Arbeitsverhältnisse gegeben: die befristeten Arbeitsverhältnisse haben zugenommen, Voucher-Modelle wurden eingeführt und „Arbeit auf Abruf“ hatte Hochkonjunktur.
 
 
Italien ist jenes Land in der Europäischen Union, in dem in den letzten 20 Jahren die Löhne am wenigsten gestiegen bzw. die weit hinter der Inflation zurückgeblieben sind.
 
 
„Wir haben in Italien somit zum einen eine Prekarisierung des Arbeitsmarktes, eine niedrige Lohndynamik und parallel dazu einen Wildwuchs an unterschiedlichen Kollektivverträgen – mittlerweile sind es beinahe an die Tausend“, berichtet der AFI-Direktor. Zwar gebe es in den beschäftigungsstärksten Branchen, dazu zählen der öffentliche Dienst, der Sektor Handel und Dienstleistungen, die Metallverarbeitung, maßbestimmende Kollektivverträge, daneben zirkulierten aber unzählige andere – in diesem Zusammenhang wird mittlerweile von sogenannten „contratti pirata“ bzw. Piratenverträgen gesprochen. Weshalb wird in Italien also nicht der gesetzlichen Mindeststundenlohn einführt? Diese Forderung erheben nämlich sämtliche Oppositionsparteien ausgenommen die Matteo-Renzi-Partei Italia Viva. Wie Perini erklärt, argumentieren die Befürworter vor allem damit, dass die Einführung eines Mindeststundenlohnes jenen, die unter diesem Lohn-Niveau liegen, ein Stück weit Würde einräumte und ihnen ein Einkommen bescheren würde, das sie aus der Situation der relativen Armut herausführt. Die Gegner hingegen beharren darauf, dass höhere Löhne über den kollektivvertraglichen Verhandlungsweg erreicht werden müssten. Insbesondere die Gewerkschaft CISL agiere nach dem Motto „contrattare sempre“ und lehne ein vom Staat, also eine „von oben“ verordnete Lohn-Mindestschwelle ab. Die Arbeitgeberseite vertritt die Position „mehr Netto vom Brutto“. Dies bedeutet, höhere Löhne ja, aber den Betrieben dürften dadurch keine zusätzlichen Kosten entstehen, vielmehr müsse der Steuerkeil entsprechend gesenkt werden.
 
 

Nur ein Sommerloch-Thema?

 
Wie AFI-Direktor Perini erklärt, befürworte er aus volkswirtschaftlicher Sicht die Einführung eines gesetzlichen Mindeststundenlohnes in Italien. In der derzeit geführten politischen Diskussion würden jedoch eine Vielzahl an poltisch-strategischen Überlegungen mitschwingen. So sei die Linke momentan auf der Suche nach einem Thema, um gegen die amtierende Meloni-Regierung Kante zu zeigen bzw. entwickle sich die gesamte Debatte langsam zu einem Sommerloch-Thema. Für die Gewerkschaften hingegen gestalte sich diese Diskussion immer mehr zu einem politischen Überlebenskampf. Denn wie bereits eingangs erwähnt, gehört das Führen der Lohnverhandlungen zu den Kernaufgaben der Gewerkschaften. Wie Perini erklärt, zeigten sich die Gewerkschaftsbünde in dieser Hinsicht sehr „besitzergreifend“ und lehnten die Einflussnahme von Seiten der Parteien und Politik ab. Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindeststundenlohns in Italien könnten aber zumindest die prekär Beschäftigten abgesichert werden.
 
 
Auch in anderen Ländern funktioniert dieses System, warum also nicht auch in Italien?
 
 
Auch in anderen Ländern funktioniere dieses System, warum also nicht auch in Italien? „Wer die Zuständigkeit einfordert, muss dann aber auch liefern“, so Perini zur Rolle der Gewerkschaften. Fakt sei, dass sich die Verhältnisse für die Arbeitnehmenden in den vergangenen 20 Jahren in Italien zum Schlechteren entwickelt haben. So arbeitet die Hälfte der Lohnabhängigen mit einem Kollektivvertrag, der bereits abgelaufen ist. Was Südtirol betrifft, so gebe es von Seiten der Gewerkschaften durchaus die Bereitschaft, an den Verhandlungstisch zu treten, wie AFI-Direktor Perini erläutert. Bereits Anfang 2021 wurde von den Fachgewerkschaften im Öffentlichen Dienst die Aufnahmen von Verhandlungen angemahnt. Mangels einer verbindlichen zeitlichen Deadline ist es allerdings dem Willen beider Seiten überlassen, wann diese Verhandlung beginnt. „Somit lässt sich die Frage, ob die Gewerkschaften oder die Arbeitgeber-Seite Schuld an der Situation ist, nicht beantworten. Es ist das System an sich, das nicht funktioniert, wie es eigentlich sollte“, so Perini. „Dabei könnte sich die Kombination aus beiden Instrumenten – gesetzlicher Mindestlohn und gestärkte Kollektivvertragsverhandlung – als Erfolgsrezept erweisen, um Italien aus dieser Misere zu führen“.