Angekündigte Kraftakte und unsichere Ergebnisse
Das Durcheinander an Regeln, Meinungen und Vorschlägen bei der Arbeitsmarktreform zeigt die Vitalität und die Entgrenzungstendenzen unserer parlamentarischen Demokratie. Es entspricht dem italienischen Selbstverständnis von spontanem Individualismus und dialektischer Unordnung, dass alle Varianten zugleich zur Debatte stehen und die lebhaften Auseinandersetzungen in den Medien den Geräuschhintergrund der parlamentarischen Diskussion bilden. Läutet nun die Vertrauensabstimmung zum Jobs act das neue Reformzeitalter ein?
Ministerpräsident Renzi unterließ es tunlichst, seine Vorstellungen zu einer einfachen und organisch aufgebauten Reform detailliert darzulegen. Sein Ziel ist es ja zunächst, eine Mehrheit für das entsprechende Ermächtigungsgesetz zu finden. Für die Verhandlungen zur Ausgestaltung des gesetzesvertretenden Dekrets, die die Regierung dann führen wird, braucht er Spielräume, sei es gegenüber dem NCD, sei es gegenüber den Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden, sei es parteiintern und, schließlich, gegenüber seinem eigennützigen Unterstützer und Widersacher Berlusconi.
Die Diskussion um die Arbeitsmarktreform hatte sich zugespitzt. Zahlreiche Vorschläge lagen auf dem Tisch. Die einen beinhalten die radikale Verabschiedung von einem Kündigungsschutz, bei dem im Falle der wegen Fehlens der triftigen subjektiven oder betriebsorganisatorischen Gründe annullierten Kündigung die Entscheidung über die Wahrnehmung des Wiedereinstellungsrechts oder die Inanspruchnahme einer Entschädigung beim einzelnen Arbeitnehmer liegt. Die anderen wollen ebendiesen Kündigungsschutz, der in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitern gilt, auch auf Arbeitnehmer/innen in Kleinbetrieben ausdehnen. Kompromisse sehen die Abschaffung desselben für Neueinstellungen oder dessen Beibehaltung nach den ersten drei Jahren mit unbefristetem Arbeitsvertrag bzw. zuletzt laut Regierungsvorschlag dessen Einschränkung auf als diskriminierend eingestufte Kündigungen vor. Ministerpräsident Matteo Renzi stand kurz vor dem redde rationem. Was also?
Und was tut der Ministerpräsident? Er lanciert ein neues Thema: die Auszahlung der Abfertigung in der Lohntüte. Wieder so ein Vorschlag, der Perplexität auslöst. Naheliegend ist die Vermutung, dass es Renzi darum geht, den Konsum anzukurbeln, nachdem der 80-Euro-Bonus kaum etwas gebracht hat und inzwischen aufgrund der neuesten Daten zur Wirtschaftsentwicklung klar ist, dass die wirtschaftliche Stagnation noch anhalten wird. Volkswirtschaftlich wirksame Steuersenkungen sind wohl (immer noch) nicht finanzierbar und strukturelle Maßnahmen zeigen erst nach vielen Jahren Früchte. Dass es für die Unternehmen keine willkommene Reform ist, scheint offenkundig zu sein, schließlich sind deren Liquiditätsengpässe laufend im Fokus der Aufmerksamkeit von Institutionen und Medien. Dass die Auszahlung über die Lohntüte die steuerliche Behandlung der Abfertigung verändern könnte, ist ein Aspekt, den er womöglich zu wenig bedacht hat. Es liegt aber auch die Vermutung nahe, dass ihm dieser Schachzug nahegelegt worden ist, um in der Arbeitsmarktreform ein Kuckucksei zu platzieren, das im Endeffekt zur Abschaffung der Abfertigung führen wird. Noch ein Denkmal der Arbeitnehmerrechte, das vom Sockel gestoßen werden soll?! Es überrascht aber vor allem, dass ihm als PD-Politiker nicht klar ist, dass die Abfertigung eine zentrale Rolle für die Absicherung im Alter spielt, zumal angesichts der verschärften Verrentungsregeln und der geringen finanziellen Spielräume der Lohnabhängigen für den Aufbau einer zweiten Rentensäule. Die Abfertigung ist eine alte Einrichtung. Deshalb muss sie noch lange nicht obsolet sein. Im Gegenteil: Die wenig ermutigenden Erfahrungen mit den Zusatzrentenfonds zeigen, dass die Methode des „salario differito“ als gesetzlich verankertes Instrument der zusätzlichen Rentensicherung ausgezeichnet geeignet ist, um gerade den Niedriglohnbeziehern/innen eine Unterstützung im Alter zu bieten. Deshalb sollte die Abfertigung beibehalten und es sogar erschwert werden, diese vorzeitig in Anspruch zu nehmen, was ja jetzt in der Wirtschaftskrise häufig der Fall ist, damit die Aussichten auf ein Zubrot bei der Verrentung Bestand haben.
Anforderungen an die Reformagenda
Doch zurück zur Arbeitsmarktreform: Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass in der Debatte zum Art. 18 und zur Neuordnung der Arbeitsverträge in den Medien zum x-ten Mal zwischen den verschiedenen politischen, gewerkschaftlichen und Verbandsvertretern/innen ein Wettbewerb um die Schlagzeilen ausgefochten wird. Doch anders als früher haben sich die Grenzziehungen zwischen den politischen und den gewerkschaftlichen Positionen verschoben und die Auseinandersetzungen in die Parteien und in die Gewerkschaften hinein verlagert.
Den Wettbewerb um zukunftsweisende Lösungen bei der Neuschreibung der Regeln für den Arbeitsmarkt können nur Reformer gewinnen und nicht jene, die partout an alten Regeln festhalten wollen oder die dringend notwendigen zusätzlichen Schutzmechanismen für Teile der atypisch und prekär Beschäftigten in Frage stellen. Damit die Reform greift, muss ein Gesamtpaket geschnürt werden, das auch andere Maßnahmen organisch verzahnt:
• das die Arbeitsverträge auf einige Typologien beschränkt und weiter vereinheitlicht, was die Sozialversicherungsbeiträge und die sozialen Schutzmaßnahmen angeht,
• das für eine steuerliche Entlastung des Faktors Arbeit sorgt,
• das die Arbeitsvermittlungsdienste auf Effizienz ausrichtet,
• das dieselben mit umfassenden Informations-, Beratungs- und Betreuungsdiensten ausstattet,
• in dem der Lehrvertrag durch die Errichtung gut ausgestatteter öffentlicher oder von entsprechend qualifizierten Bildungsträgern geführten Berufsschulen und den mitteleuropäischen Standards entsprechenden theoretischen und praktischen Ausbildungsanforderungen als gleichwertiges Zugangsportal zur Arbeitswelt etabliert wird,
• das ein Netzwerk an Qualifikations- und Umschulungsstrukturen zwischen öffentlichen, privaten und sozialpartnerschaftlichen Trägern schafft bzw. unterstützt,
• das eine angemessene Mindestsicherung für Arbeitslose, soziale Härtefälle und benachteiligte Personengruppen nach den gängigen europäischen Modellen einführt (die sog. Reform der „ammortizzatori sociali“),
• das familienfreundliche und lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle fördert,
• das allen Bevölkerungsschichten ein angemessenes Einkommen im Rentenalter sichert,
• das gesamtstaatlich und territorial die Vertragshoheit der Gewerkschaften und Unternehmerverbände anerkennt und den von diesen geschaffenen Rahmen für die Kollektivverhandlungen der jeweiligen betrieblichen Vertretungen,
• und das, schließlich, Rechtssicherheit in Bezug auf die Abwicklung von Arbeitsstreitigkeiten schafft.
Im Zentrum der Reformen zum Arbeitsvertrag muss jedenfalls der Schutz der Arbeitnehmer/innen als schwächeren Partnern beim Vertragsabschluss stehen, sei es bei der Einstellung, sei es im Laufe der Arbeitstätigkeit, sei es bei deren freiwilliger oder unfreiwilliger Beendigung. Flexible Arbeitsverträge stehen den Unternehmern schon jetzt ausreichend zur Verfügung. Dass den Verträgen für die kontinuierliche koordinierte Mitarbeit, beginnend mit den von Arbeitsminister Treu eingeleiteten Neuerungen eine gesetzliche Legitimation verliehen worden ist, entsprach der Notwendigkeit, Regeln zu finden, damit die gängige illegale Praxis in geordnete Bahnen gelenkt wird. Was im Sog neoliberaler Gesellschaftsparadigmen jedoch dann geschehen ist, ist nicht nur die Einführung zahlreicher neuer atypischer Arbeitsverträge (von den Projektaufträgen über die Eingliederungsverträge, die Arbeit auf Abruf bis hin zu den Arbeitsgutscheinen), die einen zeitlich flexibleren Arbeitseinsatz ermöglichen (für die die betriebliche Arbeitszeitgestaltung eigentlich bereits zahlreiche Varianten anbietet), sondern deren Verknüpfung mit teils viel geringeren Sozialversicherungsbeiträgen und geringeren sozialen Schutzrechten gegenüber den Standardarbeitsverträgen. Die Häufung neuer Arbeitsvertragsmodelle diente also nicht nur zur Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und zur Umgehung der Hürde des Art. 18, sondern erfüllte vor allem das Ziel der Absenkung der Arbeitskosten. Die Impulse für mehr Beschäftigung sind ausgeblieben, sofern es überhaupt realistisch war, solche Hoffnungen damit zu verbinden. Nach einhelligem Urteil der Experten ist Italien gegenüber anderen europäischen Ländern entscheidend ins Hintertreffen gekommen, weil ohne Reform der Institutionen und ohne Innovationsschübe die Entwicklung der Produktivität seit Jahrzehnten stagniert. Die hierfür notwendigen Reformen hat auch Ministerpräsident Renzi noch nicht auf den Weg gebracht.
Symbolcharakter überlagert tatsächliche Bedeutung
Das Ringen um den Art. 18 hat Symbolcharakter für die Auseinandersetzung zwischen den großen politischen und weltanschaulichen Lagern und für die Verschleißerscheinungen der politischen, gewerkschaftlichen und verbandlichen Repräsentationsstrukturen. Obwohl die Anzahl der gerichtlichen Entscheidungen aufgrund der Anrufung des Art. 18 des Arbeiterstatuts kaum nennenswert ist, stellt der Art. 18 für die Gewerkschaften ein Sinnbild für deren Kampf um die Anerkennung der Würde der Arbeitnehmer/innen und den Schutz gegen die Willkür der Arbeitgeber dar. Auf der anderen Seite sehen ihn die Unternehmer als lästigen Klotz am Bein, der ihnen eine bedarfsorientierte Personalpolitik verwehrt oder zumindest diese stark einschränkt, vor allem aufgrund der langatmigen Gerichtsverfahren im Falle der Anfechtung der Kündigung durch die Arbeitnehmer/innen. Die tatsächliche Auseinandersetzung wird inzwischen nicht nur zum Art. 18, sondern zu den Arbeitsmarktregeln insgesamt geführt, wobei vor allem die Arbeitsverträge, die sozialen Schutzmaßnahmen bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, die qualifikatorische Einstufung und die Regeln für die Kollektivvertragsabschlüsse im Mittelpunkt stehen. Hierstehen sich unter dem Kostendruck des Wettbewerbs und der wirtschaftlichen Talfahrt Deregulierungsbefürworter und Verfechter eines gebändigten und ethisch verantwortlichen Kapitalismus gegenüber, wobei letztere aufgrund des umfassenden Wandels der Rahmenbedingungen für Unternehmertum und Arbeitsorganisation und des Schwindens der eigenen Verhandlungsmacht in die Enge getrieben worden sind. Es ist eine nicht zugegebene, aber sehr reale Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital im Gange, in der um die Vorherrschaft des künftigen gesellschaftlichen Paradigmas in den Unternehmen und in der Gesellschaft gerungen wird.
Verlust an proaktiver Veränderungsdynamik
Unter veränderten Konstellationen, nämlich in einer Auseinandersetzung um die Zukunft der Arbeit innerhalb der Gewerkschaften und der Parteien im sog. linken Spektrum anstatt der traditionellen Konfrontation von konservativen und sozialdemokratischen bzw. linksorientierten politischen Kräften wird die Debatte auch offener geführt, indem institutionelle Verkrustungen und Versäumnisse klar angesprochen werden. Zahlreiche Experten haben in eindringlicher Weise angemahnt, diese Gelegenheit nicht zu versäumen, um Italien in Europa wieder auf Kurs mit den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern und deren sozialen und Bildungsstandards zu bringen. So hat der Präsident des CNEL Giuseppe De Rita die schleichende Auflösung des institutionellen Systems und den Verlust der Fähigkeit zur selbstreflexiven Ingangsetzung von Erneuerungsprozessen diagnostiziert. Die Stärke einer polyzentrischen Macht- und Verantwortungsverteilung zwischen Politik, Verbänden und Gewerkschaften habe sich durch deren regressive Konzentration auf Partikularinteressen zu einem Joch gewandelt, das die Fähigkeit zur selbstgesteuerter Veränderungsdynamik erlahmen ließ. Dem Virus der Verantwortungslosigkeit, so De Rita, müsse nun ein politischer Kraftakt entgegengesetzt werden, um aus der politischen und wirtschaftlichen Talsohle zu kommen. Der Soziologe Mimmo Carrieri sprach sich dafür aus, dass die Gewerkschaften ihre soziale Verortung grundsätzlich auf den Prüfstand stellen, um eine Phase der Neuorientierung einzuleiten: Wertekanons und daraus abgeleiteter Vertretungsanspruch sowie Organisationsstrategie müssen an die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen angepasst werden, um für die Zukunft gerüstet zu sein .
Laut Politikwissenschaftler Paolo Feltrin hat die Finanzkrise die reale Wirtschaft in eine Krise hineingetrieben, in der sich dann die jahrzehntelange Untätigkeit in kritischen Handlungsfeldern (Hinausschieben der Haushaltssanierung und der Reform der Institutionen) als Bumerang erwies. Politische Parteien und gesellschaftliche Vertretungsorgane, von den Gewerkschaften über die Unternehmerverbände bis hin zu den Berufskammern und dem gesamtstaatlichen Gemeindenverband, die sich ohne Zweifel über Jahrzehnte bedeutende Verdienste um die Gemeinwesenentwicklung erworben haben, haben notwendige Reformen gebremst. Es sei nicht beachtet worden, dass Vertretungsorganisationen und Verbände dazu tendieren, durch „Verteilungskoalitionen“ Renditen zu Lasten des Staates zu akkumulieren, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Feltrin ist bewusst, dass Politik, Verbände und Gewerkschaften eine wichtige Rolle im Gesellschaftsgefüge einnehmen. Dank ihrer sehr kapillaren Strukturierung auf dem Territorium sind sie auch nicht so einfach ersetzbar. Deshalb kritisiert er Fehlentwicklungen, reiht sich aber nicht in das weit verbreitete und so unproduktive wie gefährliche Politik- und Institutionen-bashing ein. Er schlägt vor, diese Vertretungsstrukturen durch klare Transparenzregeln und die Entwicklung der institutioneller Verlässlichkeit (accountability) stärker in die gesamtgesellschaftliche Verantwortung einzubinden und ihnen konkrete Aufgaben im öffentlichen Interesse zu übertragen, und das auf gesamtstaatlicher wie auf dezentraler Ebene.
Politik und Repräsentations- und Verbandsstrukturen müssen also ihre Rolle in und für die Gesellschaft neu definieren und auf die Gemeinnützigkeitsverantwortung und die künftigen Aufgabenstellungen ausrichten. Ministerpräsident Renzi hat sich zum Reformer ernannt. Nun muss er beweisen, dass er die richtigen Impulse geben kann, Durchsetzungsvermögen gegen eingefahrene Renditepositionen und strukturelle Verkrustungen besitzt und das Vertrauen in ihn gerechtfertigt ist.
Drei Risiken auf dem Weg der Reformen
Der Ausgang des Unterfangens Jobs act ist noch offen. Eine gewonnene Vertrauensabstimmung präjudiziert nicht die Inhalte der Reform, sondern ist ein Meilenstein auf dem Weg, die Regierungspartei auf Reformkohärenz einzuschwören und Renzis Führungsposition zu stabilisieren. Dann werden die offenen und verdeckten Verhandlungen neu beginnen. Das Ergebnis hängt vermutlich weniger von der formalen Stimmigkeit, der inhaltlichen und systemischen Logik und der sozialen Nachhaltigkeit der Reformvorschläge ab als von den wechselvollen politischen Koalitionen und dem Einfluss maßgeblicher Stakeholder. Also wird es ein Kompromiss, hoffentlich ein brauchbarer.
Einige Hürden, die es zu überwinden gilt, hängen mit typisch italienischen Vorzügen und Eigenschaften zusammen, die einerseits in der Vergangenheit den Erfolg des italienischen Wegs begründet haben und andererseits auch die Gefahr beinhalten, dass die gewählten Strategien sich als nicht genügend effizient und wirksam erweisen. Da ist einmal das sprichwörtliche Improvisationstalent zu nennen. Es könnte eine gewisse Oberflächlichkeit in der Konzeption und in der Durchstrukturierung der Arbeitsmarktreform bewirken, etwa dadurch, dass widersprüchliche Lösungen beschlossen werden (wie etwa, wenn die Lehre als bloße formale Hülle belassen und mit einer Funktion überfrachtet wird, nämlich der Arbeitseingliederung, obwohl sie in erster Linie ein Ausbildungsvertrag ist), oder formale und strukturelle Ungereimtheiten nicht ausgeräumt werden (wie etwa durch die Aufspaltung der Arbeitskräfte in solche erster und zweiter Klasse (was die Arbeitsverträge, die sozialen Schutzrechte, die Mitbestimmung und die Rentenansprüche angeht). Mit einer wortreichen und medial großartig inszenierten oberflächlichen Kosmetik kann nicht der Beginn einer neuen Ära eingeleitet werden.
Eine zweite Herausforderung ist der Nationalstolz. Dieser veranlasst in der Regel dazu, ja nicht etwas von anderen Ländern zu übernehmen, das dort erfolgreich ist, weil, ja weil eben die Voraussetzungen ganz andere sind, wie gleich immer betont wird. Es ist in diesem Zusammenhang viel von Deutschland gesprochen worden. Doch es geht nicht darum, in die Fußstapfen einer anderen Nation zu treten und die eigene Tradition in Gesetzgebung, Reformwillen und sozialer Solidarität zu verleugnen. In einem geeinten Europa sind Vergleiche mit anderen Ländern nichts anderes als Abkürzungen auf dem Weg des Lernens. Manche kreative Idee kann dabei aufgegriffen und für die eigenen Anforderungen adaptiert werden. Im Vordergrund steht dabei die Passung mit den eigenen Problemstellungen, also eine ganz nüchterne Abwägung der Zweckmäßigkeit, gepaart mit der eigenen Findigkeit in der strukturellen Ausgestaltung und in der Implementierung in die eigene Rechtsordnung sowie in der Weiterentwicklung der eigenen Rechtskultur und des Gesellschaftsmodells, damit die Funktionalität mit den Emotionen in Einklang gebracht werden kann.
Und dann geht es am Ende der langen und zermürbenden Auseinandersetzung für alle Beteiligten darum, das Ergebnis als einen Erfolg zu vermarkten, „di fare bella figura“. Das kann ein Beweggrund dafür sein, dass Kompromisse zustande kommen, die viele Worthülsen und vage Ankündigungen enthalten, aber in der Substanz nicht den Problemen zu Leibe rücken, die dringend anzugehen sind. Dieses Risiko besteht vor allem in einer Situation, in der sehr bedeutenden und einflussreichen Organisationen und gesellschaftlichen Gruppen große Zugeständnisse abverlangt werden, sei es inhaltlicher Natur, sei es bei den erzielten Renditepositionen. Durch gegenseitiges Blockieren kann das Ergebnis der Reformen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergedrückt werden. Dass durch unklare und auf vielerlei Weise interpretierbare Formulierungen oder durch ein Übermaß an widersprüchlichen Änderungen dafür gesorgt wird, dass die Verhältnisse so bleiben wie sie sind, diese Besorgnis hat der Wirtschaftsprofessor Tito Boeri kürzlich in einem Kommentar der Tageszeitung Repubblica ausgesprochen. Ob bei der Regelung des Arbeitsmarktes, der Neuausrichtung der sozialen Abfederungsmaßnahmen oder der Definition des Rahmens der Kollektivvertragsverhandlungen: Das Land, die Institutionen und die Bürgerinnen und Bürger brauchen klare systemische Konzepte und Regelwerke. Es gereicht Politikern/innen und allen anderen Protagonisten/innen mehr zur Ehre, wenn sie darauf verzichten, irgendwo ihr Fähnlein sichtbar anzustecken und stattdessen eine rationale und organische Lösung befürworten, die für die Zukunft Bestand hat. Die Gesellschaft muss in dieser Situation Lernfähigkeit beweisen, sich also von alten Konventionen und partikularistischem Vorteilsdenken lösen.
Und was für Schlussfolgerungen können wir für Südtirol ziehen? Nun, hier ist ebenfalls eine kritische Betrachtung der Rolle der Institutionen, der Sozialpartner und der Verbandsstrukturen angebracht. Wir verfügen über bedeutende Mittel, nutzen aber in vielen Bereichen die Potentiale und die Chancen nicht. Und wir zeigen uns vielfach reformresistent, was an historischen Beispielen festgemacht werden kann, die inzwischen nicht mehr die Emotionen hochgehen lassen wie heutige Projekte und Vorhaben: Mebo, Universität. Wir brauchen Weitblick für die richtigen Weichenstellungen.