Kultur | Fotografie
Adieu, alter Kerker!
Foto: Seehauserfoto
Nach Einschätzung der resoluten Portierfrau bin ich Stammgast im Kerker von Bozen. Die letzten 30 Jahre, findet sie, ist wahrscheinlich niemand öfter ein- und ausgegangen in der Via Dante 28, – Angestellte, Freiwillige Helfer, den Gefangenenpater und rückfällige Kurzzeit-Ganoven natürlich ausgenommen. Wann immer ein Anlass sich ergab oder Gelegenheit ist, geh ich hinein. Ich bilde mir somit ein zu wissen, wovon ich rede.
Damit jedoch niemand zu gut von mir denke: Ich geh nicht in karitativer Absicht hin, sondern eher aus Neugier. Und zu meiner eigenen Vorurteilspflege. Ich behaupte nämlich und suche mir laufend die Bestätigung dafür: Der alte, vor 130 Jahren von der habsburgischen Verwaltung erbaute Kerker von Bozen ist weiterhin eines der menschenfreundlichsten Gefängnisse Italiens. Von Österreich und Deutschland erst nicht zu reden. Nach dorthin abgeschoben zu werden, ist die Schreckensvorstellung eines jeden Bozner Häftlings mit Erfahrung.
Die veröffentlichte Meinung will es anders sehen. „Menschenunwürdig!“, lautet das genormte Urteil der Kerkerbesucher, und wer nie drinnen war und nichts weiß, plappert nach: „menschenunwürdig!“. Wer widerspricht, versündigt sich gegen die Menschenwürde. „Menschenunwürdig!“ war die Ausrede dafür, dass am alten Kerker seit Jahrzehnten nicht einmal mehr die elementarsten Sanierungsarbeiten vorgenommen wurden. Den alten Kerker vergammeln zu lassen, war der Passierschein für den pharaonischen Gefängnis-Neubau in Bozen-Süd.
Ist der alte Bozner Kerker also menschenwürdig? Nein, ist er nicht. Er ist menschlich. Es fehlt darin alles, was neuzeitlichen Wohnstandards entspricht. Alles, alles, alles. Doch fehlt, oder zumindest: fehlte das nicht alles auch auf jeder Almhütte? Und in jedem zweiten Bauernhaus? Dafür gab es darin die Stube. Und den Stubenofen! Jawohl: Der atmosphärische Unterschied zwischen dem alten Bozner Kerker und dem neuen Supergefängnis von Trient ist der zwischen einem eingewärmten Stubenofen und einem ausgeschalteten Kühlschrank.
Keiner, der in Bozen einsitzt, lässt sich freiwillig nach Trient verlegen. Das „menschenunwürdige“ Bozen gilt weiterhin als Geheimtipp unter Italiens Haftbevölkerung. Viele der unzweifelhaft objektiven Mängel erweisen sich als Chance für menschliche Liebenswürdigkeiten. Man hilft einander, notgedrungen; kocht gemeinsam, weil die Küche, obwohl gut, überfordert ist; die Zellen sind zu klein, und deswegen bleiben sie länger offen. Die Wärter sind noch nicht von Videoüberwachungsanlagen ersetzt.
Und wie geht’s dem Personal? Wer es fragt, erhält als erste Antwort: „An Parkplätzen fehlt es“. An solchen wird es am neuen Gefängnissitz in Bozen-Süd gewiss nicht mangeln. Dort wird verwirklicht werden, woran es im alten Kerker fehlt: das hygienisch, diätetisch, raumordnerisch, psychologisch und politisch korrekte Zuchthaus. Zum Lachen, wenn’s nicht zum Weinen wär!
Mit Blick nach innen
Othmar Seehauser, weltgereister Südtiroler Fotograf, Jahrgang 1955, darf von sich sagen, er hat sein Land und die Menschen darin „im Kasten“. Der Fotograf schaut mit der Kamera, und was er sieht, besitzt er. Seehausers Foto-Fundus darf deshalb ohne Übertreibung als einer von Südtirols reichsten bezeichnet werden. Wo immer in den letzten Jahrzehnten Südtirol stattfand, Othmar Seehauser war da. Und wer die Zeitgeschichte dieses Landes nach-„schauen“ will, er wird sie nirgends lückenloser sehen als in Seehausers Foto-Archiv. Vieles daraus fand seine Verwertung in Zeitungen, Magazinen und Zeitschriften, auch internationalen. Einiges wurde zu erfolgreichen Bildbänden veredelt.
Othmar Seehauser ist Foto-Reporter. Dessen wichtigste Eigenschaft ist es (abgesehen davon, möglichst als erster zur Stelle zu sein), das Gespür für die Geschichte zu haben. Er muss mehr sehen als jeder hinter ihm herschreibende Journalist. Dieser kann sich im Notfall die Geschichte anhand der gelieferten Fotos erfinden. Sein Jagdinstinkt, gebündelt mit Erfahrung und einer stets wachen Verwertungshaltung, lässt Seehauser gern „die Geschichte hinter der Geschichte“ suchen.
Sein beruflicher Erfolg und der damit einhergehende Ruf erlaubt es dem Meister inzwischen, das fotografische Tagesgeschäft hintanzustellen zugunsten prestigevollerer, nicht der Aktualität verpflichteter Reportagen. Die Fotosequenz für diese Ausstellung über das Gefängnis von Bozen entspringt diesem Anspruch. Bozen und damit das Land Südtirol werden demnächst ein neues, den Standards der Zeit entsprechendes Gefängnis bekommen. Es war deshalb der Ehrgeiz des Fotografen, dem alten, neuzeitlichen Erfordernissen nicht mehr genügenden, jedoch anderweitig interessanten alten Kerker in der Dante-Straße fotografisch gewissermaßen eine letzte Ehre zu erweisen.
Seehauser geht es dabei nicht um eine letzte Dokumentation des architektonisch interessanten Gefängnisbaues, der vermutlich demnächst abgerissen wird (immerhin handelt es sich um ein Gebäude des späteren 19. Jahrhunderts, also aus der Habsburgerzeit). Genauso wenig will er das Gefangenenleben in Bozen dokumentieren. Seehausers Absicht mit dieser Ausstellung ist es, den Menschen „draußen“ eine Ahnung vom Leben „drinnen“ zu vermitteln.
Die Bilder, die er zeigt, könnten überall auf der Welt entstanden sein. Sie sind es aber in Bozen. Seehauser, der diesem Land und seinen Menschen tief ins Innere hineingeschaut hat, schaut hier am tiefsten. Er schenkt uns Bilder von „drinnen“, vom Kerkerleben, was nicht nur technisch, sondern auch rechtlich und psychologisch hohe Ansprüche an den Fotografen stellt. Seine Bilder sind nicht anklagend, sie moralisieren nicht, manche blinzeln uns neckisch zu, manch andere wiederum sind einfach nur von schöner Traurigkeit. Mehr Poesie als Dokumentation. Ein Adieu mit Wehmut auf den alten Kerker von Bozen.
Bitte anmelden um zu kommentieren