Kultur | Salto Afternoon

Mit sich ins Gericht gehen

„Saint Omer“ ist ein Film der sich nicht anbiedert, mit viel Stille arbeitet. Bei einem Kindsmord mit undurchdringlichem Motiv sucht er nicht Wahrheit, sondern Empathie.
Saint Omer Rama
Foto: Filmtrailer Youtube
Die Regisseurin Alice Diop hat ihr Handwerk im Dokumentarbereich gelernt und in ihrem Spielfilmdebüt merkt man das und zwar im Guten: An Konventionen ist sie nicht interessiert, dafür an der Gesellschaft und ihren Menschen. Dass ihr das in Anbetracht des Themas ohne Wertung gelungen ist, wurde bei der 79. Biennale von Venedig mit einem Silbernen Löwen und dem „Löwen der Zukunft“, dem Luigi De Laurentiis-Preis für den besten Debütfilm gewürdigt.
„Saint Omer“ erzählt - basierend auf einem realen Fall von 2016, dessen Prozess die Regisseurin beiwohnte - fünf Verhandlungstage vor Gericht, welche uns durch die Linse der afro-französischen Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) erzählt werden, der beobachtenden Protagonistin des Films. Ihre Abstammung ist auch scharf im Wohnzimmer des Elternhauses gezeichnet: Afrikanische Batikstoffe auf der Couch, ein Bild der Mona Lisa über dem Fernseher.
Zu Laurence Coly (Guslagie Malanga), der geständigen Angeklagten baut sie eine sich vertiefende emotionale Verbindung auf, welche anfangs subtiler, später expliziter präsentiert wird. Wir lernen Rama außerhalb des Gerichtssaals kennen, die Augenblicke vor der Tat der - wie die Regisseurin und die reale Kindsmörderin - im Senegal geborenen Mutter, welche ihr 15 Monate altes Kind der Meeresflut überließ und nun in Saint Omer vor Gericht steht. Rama schreckt aus ihrem Traum auf, findet sich in ihrem Bett in Paris neben ihrem Partner Adrien (Thomas De Pourquery) wieder. Im Traum hat sie „Mutter“ gerufen. Es ist diese, die Mutterschaft das zentrale Thema des Films.
Rama plant im Wesentlichen, was die Regisseurin mit dem unter Ausschluss von Kameras statt gefundenen Prozess getan hat, ihn zu fiktionalisieren und so zu erzählen. „Médée naufragée“ soll der Romantitel ihres nächsten Buches sein, von welchem wir im Film Andeutungen einer Schreib-Blockade zu sehen sind. Im Film werden auch gemischt-ethnische Beziehungen beleuchtet und, immer wieder, unterschwellig rassistische Vorurteile. Adrien ist, wie Luc Dumontet (Xavier Maly), der Kindsvater des ertrunkenen Mädchens und die große Mehrheit der Personen im Gerichtssaal in welchem sich das Gros der Handlung abspielt, weiß.
Der Film muss bei augenscheinlichen Parallelen oder auch subtilen Details, wie Tränen im Augenwinkeln oder einer Geste bei Tisch, welche später Ausgesprochenes still vorwegnimmt nicht plump werden und vertraut auf die Aufmerksamkeit des Publikums. Diese hält fast ausschließlich das Thema, das von Diop nüchtern erzählt wird. Die Kamerafrau, Claire Mathon, liefert uns lange, oft frontal auf Sprecher:in oder Zuhörer:in gerichtete Einstellungen mit wenig Bewegung, Mimik-Studien von Einzelpersonen. Lediglich die Angeklagte sehen wir vor Gericht fast ausschließlich im schrägen Winkel. Gruppenbilder sind seltener. Der minimal eingesetzten Soundtrack besteht im wesentlichen aus zwei Stücken: „Partita for 8 Voices“ von Caroline Shaw und Nina Simones „Little Girl Blue“, welche respektive das den Film durchdringende Gefühl der Einsamkeit, welches schon durch die Kameraarbeit besteht, verstärken und am Ende ein Stück weit brechen.
Der Film ist dabei durchwegs um emotionale Annäherung bemüht, die schlussendlich aber an unüberwindbar scheinende Gräben führtn. Für ein Gerichtsdrama untypisch ist auch, dass die Wahrheit zum Motiv bleibt außerhalb der Erzählung bleibt, welche nur auf unzuverlässige, zum Teil sich selbst widersprechende Zeugenaussagen und Protokolle Zugriff hat. Zwei filmische Zitate, zu „Hiroshima mon amour“ (auf welche auch die Flashbacks zur Mutter-Tochter-Beziehung Ramas verweisen) zu Beginn des Films und ein längeres, direktes aus Pasolinis „Medea“ gegen Ende fiktionalisieren - oder mythisieren - die Handlung ein Stück weit, was dazwischen bleibt ist eine Realität die deutungsoffener und zugleich undurchdringlicher ist, als für Fiktion üblich.
Der Film, der seit Donnerstag in italienischer Sprache im Bozner Filmclub läuft, soll in einer deutschsprachigen Version ab März in die Kinos kommen. Er wirkt über den Kinobesuch hinaus nach und regt unaufgeregt Gedankengänge an.