Bin ich ein Pazifist?

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Bin ich ein Pazifist?
„Du bist gegen diese Aufrüstung und für sofortige Verhandlungen - bist du ein Pazifist?“ Ich hab eine Weile gebraucht, um mir diese gute Frage beantworten zu können. Das Resultat ist: nein, ich bin kein Pazifist. Diesen Titel verdiene ich nicht. Unter einem wirklichen Pazifisten versteh ich einen Menschen wie beispielsweise Gandhi. Er hätte Krieg führen können und hat es nicht getan. Ich würde mich nicht einmal trauen zu sagen, dass ich ein wirklich friedfertiger Mensch bin, im Innen und im Außen. So weit bin ich auf dem langen Weg, ein Mensch zu werden, noch nicht gekommen. Und sollte ich jemals in diesem oder einem anderen Leben dorthin gelangen, so hätte der Begriff keine Bedeutung mehr; dann würde ich tun, was zu tun ist und es wäre jenseits jeder Bewertung.
Warum bin ich also gegen diesen unsäglichen Krieg auf europäischem Boden, gegen die Hochrüstung und für sofortige Verhandlungen? Weil ich alt genug und lange genug auf dieser Welt bin, um zu verstehen, dass wir, der Westen, eindeutig Mitverantwortung (mit Betonung auf MIT) am Entstehen des Krieges haben. Die NATO-Osterweiterung bis vor die Haustür von Russland war völlig unnötig und den Abbruch der fortgeschrittenen Friedensverhandlungen in Istanbul 2022 haben wir zu verantworten.
Ja, wir haben dazu beigetragen. Wir sind keine unschuldigen Lämmer, wir sind nicht arme Opfer eines bösen Buben. Das ganze kindische Opfergetue nervt mich bis zum Anschlag. Im Grunde fühl ich mich in meinem Menschenverstand, in meiner Lebenserfahrung und in meiner beruflichen Erfahrung beleidigt, wenn ich mir die tägliche dummdreiste Propaganda anhören muss, die uns weismachen will, dass wir Guten, wir Wertegeleiteten, wir friedfertigen Hüter von Freiheit und Menschenrechten von der Bestie im Osten bedroht werden, dass die auch uns in Kürze überfallen wird und wir deshalb leider gezwungen sind, gegen sie Krieg zu führen.
Will ich angeredet werden wie ein Kleinkind, dessen Welt noch aus guter Mama und böser Mama besteht? Warum wollen die mir ständig die Märchen vom bösen Wolf und den unschuldigen Geißlein oder Schweinchen oder was immer vorlesen? Denken die, ich hab in der Schule geschlafen, oder danach nix mehr gehört von den beiden Weltkriegsmassakern des vergangenen Jahrhunderts, wo unseren Eltern und Großeltern der gleiche Mist von den Guten und den Bösen erzählt wurde? Und jetzt schon wieder?
Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich hab das Bedürfnis, wie ein erwachsener Mensch angesprochen zu werden, der in der Lage ist, das kleine Einmaleins des Lebens – wenn auch mit einiger Mühe – so doch halbwegs fehlerfrei aufsagen zu können. Sicher weiß ich, wie wunderbar und absolut befreiend es ist, ein paar Feinde zu haben, auf die wir unseren eigenen Seelenmüll projizieren können. Genauso weiß ich, wie schwierig und absolut großartig es ist, den starken Geschmack der Anerkennung und Übernahme der eigenen Verantwortung wahrzunehmen und zu erkennen, wie nahe an Frieden, Heilung und Wachstum sie uns führen kann.
Und genau diese Anerkennung und Übernahme von Mitverantwortung für die Entstehung dieses Krieges verlange ich von unseren europäischen Politikern, die uns regieren wollen und die vor Eintritt in die Regierung meist den bedeutungsschweren Satz von sich geben „wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen“. Wie schön! Dazu gibt es jetzt Gelegenheit. Übernehmt euren Teil der Verantwortung, hört auf, euer Versagen mit Kriegsgeschrei zu übertünchen, legt den Schießprügel beiseite, setzt euch an den Verhandlungstisch ohne Wenn und Aber, zieht euch frische Windeln an, weil da kanns schon mal passieren und da gibt es nix zu schämen und verschont uns mit albernen Kindergeschichten! Ich bin kein Pazifist. Ich habe fertig.
Von den sehr vielen…
Von den sehr vielen Denkfehlern, die dieser Text leider enthält, möchte ich vor allem den des »Verhandlungstisches« aufgreifen. An diesem Tisch, den Europa vor Kriegsbeginn und auch noch zu Kriegsbeginn vorgeschlagen hat, sitzt von der anderen Seite niemand. Selbst wenn er sich aber zu »Verhandlungen« bereit erklärt, tut Wladimir Putin dies wie zuletzt in Alaska nur, um Zeit zu schinden, härtere Gegenmaßnahmen zu verhindern und so den 2014 begonnenen Krieg genauso brutal weiterführen zu können wie seit Februar 2024.
Mag sein, dass auch andere nicht immer alles richtig gemacht haben, das ist sogar wahrscheinlich, doch es rechtfertigt Putins Krieg in keinster (keinster!) Weise.
Der Vorteil eines…
Der Vorteil eines unvollkommenen und ungerechten Friedens gegenüber einem vollkommenen und gerechten Krieg:
Der Frieden hat ein Morgen. Der Krieg hat nur ein endloses Heute.