Gesellschaft | Gastbeitrag

Europa als Placebo

Im Mai wählen wir ein neues EU-Parlament. Was sich auf der politischen Bühne derzeit abzeichnet, ist eine Verabreichung von Arzneien, die nach Kaugummi schmecken.
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Foto: upi
Wer heute die politischen Diskurse verfolgt, versteht nicht mehr, was gemeint ist, wenn von „Europa“ die Rede ist. Lange Zeit war es ein Synonym für einen Masterplan europäischer Staaten mit einer gemeinsamen Zukunft in Frieden und Wohlstand. Seit Jahren aber dominieren nationalstaatliche und politisch gezielt platzierte Anti-EU-Töne. Mit der Beteiligung hartgekochter rechtsnationaler Kräfte an den Regierungen in Ungarn, Österreich, Polen, Bulgarien verändert sich das Szenario grundlegend. „Europa“ ist dabei, zu einer Etikette für ein Programm zu werden, das von völlig unterschiedlichen und antagonistischen Parteien beansprucht wird. Neu daran ist, dass es jetzt auch von Gegnern der EU mit einer Identität aufgefüllt wird, die ein Revival des Nationalen und eine Sehnsucht nach einem pseudoeffizienten autoritären Staat verspricht. Alle wollen Europa, aber ein völlig konträres.
Das betrifft auch Südtirol, weil sich hier noch deutlicher abzeichnet, welche Folgen es hat, wenn eine Partei zum Preis des Postenerhalts bereit ist, eine Dekadenz der politischen Praxis in Kauf zu nehmen. Was erwartet sich die SVP von einer Kooperation mit der Lega und von einer Listenverbindung mit Berlusconi, welche Gemeinsamkeiten gibt es beim Thema „Europa“? Diesen Kräften – zusammen mit bestimmten Lobbys innerhalb der Europäischen Volkspartei – verdanken wir, dass bisher eine Harmonisierung der Steuergesetzgebung verhindert wurde und Steueroasen und Steuervermeidung nach wie vor in großem Stil möglich sind. Die Auswirkungen einer fehlgeleiteten Wachstumsdebatte unter dem Mantra der Beschäftigung zeigen sich in immer kürzeren Intervallen in der ungehemmten Belastung durch Mobilität, Tourismus, Verkehr, Bodenverbrauch.
Die aktuelle politische Agenda in Südtirol ist geeignet, uns die Augen zu öffnen für die akuten, aber bisher verdrängten Fragen. Was wir brauchen, sind Verbesserungen daran, was in der EU schief läuft. Anstatt es schlecht zu reden, sollte man Gemeinsamkeiten herstellen in der Steuer- und Sozialpolitik, in der Außen- und Wirtschaftspolitik, ein offenes und öffentliches Medienwesen ausbauen, vereinheitlichte Bildungsstandards mit europaweit anerkannten Studiengängen und Berufschancen schaffen.
Das Europa von Lega und Berlusconi ist rückwärtsgewandt und unvereinbar mit einem Europa der SVP.
Wir brauchen offensive Programme zum Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Traditionen und den Gräben, die es gibt zwischen Nord und Süd, Ost und West, urban und rural, Elite und Randgesellschaft. Eine gemeinsame europäische Demokratie mit einem einheitlichen Arbeitsrecht und einer Wirtschaftsordnung steht über einem kleinräumigen und nationalen Denken. Umweltstandards und Konsumentenschutz sind bis heute kein europäisches Aushängeschild, ebenso die Verharmlosung der Klimasituation und des Wachstumsdogmas. Und die Überhöhung der Rechte europäischer Menschen gegenüber jenen der anderen Menschen ist definitiv inakzeptabel. Ganz zu schweigen vom Stillstand beim Gender-Gap, dem Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Menschen.
 
Was die Lega gemeinsam mit ihren Komplizen von Forza Italia verfolgt, ist aber genau das. Zusammen mit ihren Partnern in Frankreich, Österreich, Ungarn, Polen, Tschechien usw. planen sie, Europa umzubauen zu einer Allianz der Nationalismen, um es zu spalten, es mit einer Propaganda falscher Versprechungen zu infizieren und die Menschen aufzuhetzen gegen ein bisher zweifellos unvollständiges Projekt. Dabei ist ja die EU selbst ein Versprechen, aber es ist ein Versprechen und ein Problem zugleich, die man beide nicht einlöst, wenn man vermeintliche Parteiraison über die Interessen der Bevölkerung stellt. Da wird auch die Politik einer graduellen Aushöhlung dessen, was das Projekt Europa war, wie es Sebastian Kurz in Österreich vorexerziert, zum Prüfstein einer in Fesseln gelegten Demokratie.
 
Wir brauchen heute mehr Europa, und das bedeutet nationale Souveränität nach Brüssel abzugeben und dafür zu sorgen, dass sie dort zukunftseuropäisch verwaltet wird. 
Wir brauchen heute mehr Europa, und das bedeutet nationale Souveränität nach Brüssel abzugeben und dafür zu sorgen, dass sie dort zukunftseuropäisch verwaltet wird. Das Europa von Lega und Berlusconi ist rückwärtsgewandt und unvereinbar mit einem Europa der SVP, außer man begnügt sich mit einer Worthülse mit Placebo-Wirkung, die man verteilt, um Scheinkonsens zu verbreiten und die Governance um keinen Preis aus der Hand zu geben. Drängen wir darauf, dass die SVP genauer erklärt, welches Europa sie will, und messen wir sie daran. Der Mann aus Südtirol in Brüssel, Herbert Dorfmann, und Manfred Weber, der Spitzenkandidat der EVP und Anwärter auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, sind keine Hoffnungsträger, sie stehen für eine Fortsetzung des Status quo.
 
 
Markus Klammer, lebt in Bozen und ist Oberschullehrer für Deutsch und Geschichte, Autor und Herausgeber, Ausstellungskurator und Kunstkritiker; sein Interesse gilt den Überschneidungen von Wirklichkeit und Simulation in Kunst, Kultur und Gesellschaft.
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Hans Hanser Mo., 25.02.2019 - 13:02

Der Durchschnittsüdtiroler verbindet mit Europa lediglich die Tatsache in den Genuss von Förderungen zu kommen und dass die Touristen ohne Visum einreisen dürfen. Vielleicht mancherorts noch die Tatsache verbilligt tanken zu können.
Man kann zur heutigen EU stehen wie man will, aber ohne sie wäre Frieden in Europa immer noch und trotz der Ereignisse vor 90 Jahren undenkbar, zu groß sind die verschiedenen wirtschaftlichen Interessen. Und gerade dorthin reicht der Südtiroler Horizont nicht. Aus diesem Grund wird die Bevölkerung auch den Schulterschluss mit FI gutheißen, nichtsahnend auf welch isoliertes Parkett man sich dabei begibt. Vielleicht erledigt die Rezession und die zukünftige Auflösung dieser schrecklichen Regierung den Rest.
Wer sich für Politikgeschichte in Südtirol interessiert, sollte sich sich mal die letzten 365 Tage auf der Zunge zergehen lassen. Der Sammelpartei ist jeder Partner recht, der den Postenschacher und -erhalt gerade mitträgt, PD, Lega, Forza Italia, wer hat noch nicht, wer will noch mal?
Dass dabei weite Teile der Bevölkerung lediglich Nachteile davontragen und nur gewisse Kräfte ihren finanziellen Vorteil daraus schöpfen, wird die Gesellschaft unweigerlich spalten; es scheint als sei man sich dessen in der Volkspartei nicht bewusst. Zumindest tut man nichts dagegen, höchstens dafür.

Mo., 25.02.2019 - 13:02 Permalink