Kultur | Salto Afternoon

Pisse, Scheiße, Blut und Macht

„Billy’s Violence“, die Koseform von William in den Titel setzend, holt Shakespeares Tragödien mit Gewalt in die Gegenwart. Entstanden ist ein Stück, das unangenehm ist.
Billy's Violence
Foto: Maarten Vanden Abeele
Eine gnadenlose Vivisektion, bei der einzelne Aspekte von Shakespeares Figuren gleichberechtigt herausgeschnitten und auf eine Bühne gesetzt, auf der keinerlei Tabus mehr existieren. Der Text von Victor Afung Lauwers ist dabei auf einer Gratwanderung, was seinen Bezug zu Shakespeare anbelangt, aber auch was mit plötzlichen Wechseln der Stücksprache vom Englischen ins Spanische oder Niederländische die Aufmerksamkeit des Publikums anbelangt: Wer nicht mittig im Saal sitzt hat (die etwas lückenhaften) Untertitel und die Handlung nicht gleichzeitig im Blick. Ganz umfänglich brutal präsentiert die needcompany (Nao Albet, Grace Ellen Barkey, Gonzalo Cunill, Martha Gardner, Romy Louise Lauwers, Juan Navarro, Maarten Seghers, Meron Verbelen) sich eingangs in Jan Lauwers Stück nicht: die erste und letzte der zehn Miniaturen bilden die Hänge eines Hochplateaus der Gewalt, das uns keine Pausen, höchstens Ablenkungen erlaubt.
Als erste, nach einer Einleitung durch den Narren betritt Portia (Julius Caesar), die Bühne wobei der Titelcharakter abwesend ist und sich das Spiel auf Portia und ihren Mann Brutus fokussiert.  Portias Darstellerin Romy Louise Lauwers, schwanger, in Unterwäsche, gab uns gleich Anfangs die Illusion, Zeugen intimer Abläufe zu werden. Wir sehen uns mit zwei Leitmotiven des Stücks konfrontiert: Shakespeares disfunktionalen - man könnte sagen toxischen - Beziehungskonstellationen, der Mann der emotionale Verschränkung als Schwäche erachtet und die Frau, die sich vom Mann abhängig macht, bis zur Negierung des Selbst in Form von Autoläsion. Das andere Leitmotiv ist, dass der Vergleich zu Tarrantino („Quentin Tarantino is a choirboy by comparison to the sheer brutality evoked by Shakespeare.“) hinkt, denn was die Gewalt auf der Bühne verstörender als die von Splatter-Filmen macht, ist zum einen das „Live“ -Medium Bühne und zum anderen die psychologische Untiefe der Figuren. Wäre das Stück ein Netflix-Film, im Vorspann hätten sich etliche Triggerwarnungen gefunden. Auch könnte man Tarrantino nicht riechen: Den Abend hindurch steigerte sich ein fast undefinierbarer Geruch, irgendwo zwischen menschlichen Absonderungen, altem Kaffeesatz und im Regen vergessenem Aschenbecher.
 
 
Mit Marina (Perikles, Fürst von Tyrus), ging die Gewalt zum sexuellen Missbrauch, zur Zwangsprostitution über. Sex war in gleichem Maße wie Gewalt ein Publikumsmagnet zu Shakespeares Zeiten, auch wenn der damalige Sittenkodex das Stück mit der unklaren Autorschaft von Inzest und Prostitution bereinigte. Hier wird eine Frau gegenüber einer anderen zur Täterin, nötigt durch Sprache (auch diese ist Gewalt) die hilflos auftretende Marina sich auszuziehen. Den Zwang, die Fügung in die Prostitution erleben wir als Tanz, kraftvolle martialische Musik (Maarten Seghers, auch als Narr am Rand des Geschehens), die uns physisch zu dem Geschehen auf der Bühne zwingt, wenn wir uns psychisch distanzieren wollen.
Im Part von Desdemona (Othello) ist Eifersucht die Triebkraft der Gewalt: wegen eines Taschentuchs und vermeintlicher Untreue bedrängt Othello Desdemona, die ihm in die Enge getrieben eine Kunstblutflasche am Kopf zerschlägt, bevor er sie stranguliert und in einen Leichensack packt. An Geschlechterrollen hadern die Schauspieler im Text, stammeln die Worte Mann, Frau, Gatte, Gattin heraus, als ob sie mit der Geschlechter-Zuweisung haderten.
Cleopatra (Antonius und Cleopatra), sieht das Zuendeführen eines fortlaufenden Elements: Ein auf der Bühne seit Anfang des Stückes gracierender Husten erreicht seinen Höhepunkt, die Pandemie-Anleihe des Stücks (auch Shakespeare schrieb es in Zeiten einer Pandemie), überträgt sich auf Antonius als „Nebel im Kopf“. Eine der mächtigsten Figuren Shakespeares wird intellektuell zum Kind gemacht, weiß nur noch mit Gewalt auf wahrgenommene Untreue zu reagieren. Der Kopf eines Nebenbuhlers wird an einer Trommel zertrümmert, die jeden Schlag gleich einer Explosion auf die Lautsprecher und das Publikum überträgt. Die Schauspieler auf der Bühne gleichgültig angesichts solcher Brutalität: Auf den Schwangerschaftsbauch wird mit Fingern ein blutiger Smiley gezeichnet.
Julia (Romeo und Julia) wird einem besonders großem Umschreiben unterzogen: Romeo und Julia befinden sich auf einem Drogen-Tripp ihres Todes-Trunk, wir werden mit der bloß 13 Jahren alten Julia mit unangenehmen (Anal-)Sexszenen konfrontiert. Überall Kot, Fliegen und der nahende Tod, der nur für Romeo kommt, da Julia das Gift ausgespuckt hat. Seine einsetzende Totenstarre wird mit „hard as a rock“ mit Errektionsvokabular beschrieben. Zum Halb-Weg-Punkt des Stückes werden wir mit Gewalt als Comedy-Element in überspitzter Form konfrontiert, Looney Toons Soundeffekte für herausgerissene Herzen inklusive. Für die einen eine Auflockerung, für die anderen ein Lachen, das im Hals stecken bleibt.
Für Lavinia (Titus Andronicus), ist eine brutale Misshandlung und das Herausschneiden der Zunge das Motiv, auf einer Folterbank mit Rollen wird sie Kopf-über-gestellt und mit großer Wucht durch den Bühnenraum geschleudert. Ihr Trauma setzt sich fort: Eine Zwangsweste unter der ihre Arme verschwinden zwingt sie, einen Schlagzeug-Stock zwischen den Zähnen auf die Trommel zu schlagen, die den schleppenden, aber gnadenlosen Takt der Interaktion zwischen Cordelia (König Lear) und ihrem Vater vorgibt.
Cordelia sieht sich dabei einem Vater gegenüber, dessen Gehirn und Selbst sich in einem Prozess der Auflösung befinden. Seine berühmte Sentenz „When we are Born, we cry…“ darf nicht zu Ende geführt werden. Psychische Krankheit und eine Verschiebung hierarchischer Machtverhältnisse werden neu ausgehandelt, die 1991 durch den Roman „Thousand Acres“ von Jane Smiley popularisierte feministisch-literaturwissenschaftliche Lesart eines inzestuösen Verhältnisses zwischen Lear und seiner Tochter wird explizit thematisiert, dem Leichnam der Tochter wird auf der Bühne die gleiche Rücksicht wie einem Sack Mehl geschenkt.
 
 
Der Versuch von Ophelia (Hamlet) sich zu Ertränken wird uns vom Narren erzählt, im hochtonigen, niederländischen Singsang, in welchem er als die sich in die Länge ziehende Gesangs-Szene unterbrochen wird, festhängt. Einen letzten Versuch mit Humor das Unerträglich ertragbar zu machen. Man führt spät noch Handpuppen in das Stück ein, so dass die Miniatur des Narren zum Suizid rät. Hamlet ist dabei nicht Fokus, diverse Schädel dienen als Bühnendeko und Marker.
Man verläuft sich bei Gruoch (dem historischen Namen der Lady Macbeth), in einem Blutbad: Gruoch die grausame, unnachgiebige Figur die über sich windenden Leibern (Puppen und Schauspieler) in einer Lache aus Blut, Scheiße und Pisse steht, mit traditionell männlich besetzten Attributen. Dies passt zur Komplexität des Stückes, das seine weiblichen Figuren in Täter und Opferrollen besetzt. Der Geruch erreicht eine letzte Steigerung, ein weiterer Grund sich in seinem Theatersitz unwohl zu fühlen. Dieses Gefühl des Unwohlseins setzt sich fort, für das letzte der zehn Portraits: Imogen (Cymbeline) wird uns in einer Art grausamen Schlaflied präsentiert, in Trauer dem enthaupteten Gatten gesungen, auf einer Bühne, die die Spuren des Exzesses trägt: Scheinbar kann nur Erschöpfung der Gewalt ein Ende setzen.