Umwelt | Artenvielfalt

"Wir sollten alle in Panik verfallen!"

Die Bedrohung der Artenvielfalt durch den Menschen
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: (c) Thomas Wilhalm/Naturmuseum

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„Das weltweite Artensterben ist für den Menschen bedrohlicher als der Klimawandel.“

Der Bericht des Welt-Biodiversitätsrats sorgte bereits im Frühjahr 2019 für ein großes Medienecho. Über 400 Wissenschaftler hatten Tausende Studien ausgewertet und kamen zum Schluss: Von weltweit geschätzten acht Millionen Arten ist eine Million vom Aussterben bedroht. Die Hauptursachen dafür sind Landnutzungsänderungen, die Überfischung der Weltmeere, der Klimawandel und die Umweltverschmutzung. Dafür verantwortlich ist der Mensch und er setzt damit seine eigene Existenz aufs Spiel. David Gruber, Direktor des Naturmuseums Südtirol, und die Kuratoren für Zoologie bzw. Botanik, Petra Kranebitter und Thomas Wilhalm, verfolgen das Thema Artenvielfalt von Berufs wegen. Wir haben uns mit ihnen über die Folgen des Rückgangs der Artenvielfalt in Südtirol unterhalten.

Was bedeutet Biodiversität?

Thomas: Biodiversität bedeutet: Alles was lebt, in seiner Vielfalt. Damit meint man vordergründig die Artenvielfalt, aber genauso wichtig ist die genetische Vielfalt innerhalb einer Art. Je variabler die genetische Ausstattung ist, desto besser sind die Chancen, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Biodiversität ist ein Ergebnis von Millionen von Jahren Evolution. Es ist wie in einer Dorfgemeinschaft: Jeder hat seine Funktion, das System ist aufeinander abgestimmt und es funktioniert, solange die Schlüsselstellen besetzt sind. Fallen diese aber plötzlich weg, entsteht ein Problem. Wir Menschen sollten deshalb nicht über Arten urteilen, ob es sie braucht oder nicht, denn wir wissen noch sehr wenig über die Zusammenhänge und die langfristigen Folgen.

In den Medien werden Sie mit dem Satz „Wir sollten alle in Panik verfallen“ zitiert. Was genau ist damit gemeint?

David: Ich meine damit, dass es im Moment kein wichtigeres Problem gibt als das Artensterben und den Klimawandel. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, braucht es im Großen die politischen Leitlinien, aber auch den kleinen individuellen Beitrag. Jeder Einzelne sollte nicht in eine Art Schockstarre fallen, sondern selbst Akzente setzen, das eigene Konsumverhalten überdenken, andere für das Thema sensibilisieren, im eigenen Einflussbereich für mehr Artenvielfalt sorgen. Das Problem ist: Effiziente Maßnahmen gegen den Artenverlust und damit auch gegen den Klimawandel bedeuten vor allem einen drastischen Einschnitt beim Konsum – und das ist unbequem.

Warum ist eine hohe Artenvielfalt wichtig?

David: Der Bericht des Weltbiodiversitätsrats bringt es auf den Punkt: Wir sägen am Ast, auf dem wir sitzen. Der Artenverlust ist nicht nur ein Umweltproblem, sondern auch ein wirtschaftliches und soziales, die Folgen können sogar mit Geld beziffert werden. Wir verbrauchen zu viele Ressourcen, heizen durch unseren Lebensstil den Klimawandel an. Folgen sind häufiger auftretende Naturkatastrophen, Flüchtlingswellen, aber auch wirtschaftliche Einbußen z. B. durch den Verlust von Arten, die für die Bestäubung der Kultur pflanzen sorgen. Das ist eine der vielen sogenannten Ökosystemleistungen, die die Natur für uns kostenlos erbringt. Wenn wir wie in China die Apfelbäume von Hand bestäuben müssten, weil die Insekten fehlen, wäre unser Produkt nicht mehr konkurrenzfähig. Eine weitere wichtige Leistung der Natur ist die Erholungsfunktion. Unser Tourismusland Südtirol lebt vom Bild einer weitgehend intakten Natur.

Wo liegt das Problem, wenn es ein paar Insektenarten weniger gibt?

David: Ich finde den Vergleich mit dem Geschicklichkeitsspiel „Jenga“ treffend, wo einige Bausteine zu einem Turm gestapelt werden: Die Spieler nehmen immer wieder einen Baustein heraus, das kann lange gut gehen, bis es irgendwann den falschen Baustein erwischt und der Turm umfällt. Die kaskadenförmige Auslöschung von Arten kann man sich so vorstellen.

Welche Arten sind in Südtirol besonders bedroht?

Petra: Zunächst fallen die Spezialisten und sensiblen Arten weg, die an einen bestimmten Lebensraum gebunden sind oder eine spezielle Lebensweise haben. Als Beispiel kann man Arten nennen, die an Feuchtlebensräume wie Moore und Feuchtwiesen oder an Trockenstandorte gebunden sind. Diese Lebensräume werden auch heute noch stark bedrängt – obwohl sie gesetzlichen Schutz genießen. Oder z. B. Schmetterlinge. Die Raupen brauchen oft ganz bestimmte Futterpflanzen, fehlen diese, kann sich der Falter nicht entwickeln. In Südtirol gelten 40 Prozent der Tierarten und 30 Prozent der Pflanzenarten als bedroht. Übrig bleiben häufig Arten, die geringe Ansprüche an ihre Umwelt haben, wie z. B. die für uns Menschen lästigen Mücken.

 

Wo und wie sieht man den Biodiversitätsrückgang?

Thomas: Man sieht das schon beim Autofahren – es kleben kaum noch Insekten an der Windschutzscheibe. Bei den Vögeln stellt man fest: Bodenbrüter sind praktisch verschwunden, in den Obstwiesen fehlen Arten wie der Wendehals und viele Finkenvögel. Dafür nimmt die Zahl der Amseln und Singdrosseln stark zu. Sie profitieren; dem gegenüber stehen aber mindestens sechs bis sieben Arten, die aufgrund der Intensivierung der Landwirtschaft zu den Verlierern zählen. Ein anderes Beispiel ist die Rauchschwalbe: Früher brütete sie in jedem Stall, heute ist ihr Bestand stark zurückgegangen. Es fehlen Insekten als Futter, es gibt kaum mehr Lehm für den Nestbau. Auf ihrer Zugroute gehen Rastplätze verloren, Zugvögel werden gefangen oder das Nahrungsangebot in den Winterquartieren nimmt ab, weil der Mensch die Lebensräume verändert.
Petra: Man sieht weniger das Sterben selbst, sondern die Abnahme der Artenzahlen und das Schwinden der Population. Weniger Individuen bedeutet eine geringere genetische Vielfalt und damit eine weitere Schwächung. Bei der Feldarbeit suche ich oft gezielt nach Arten, die in einem bestimmten Lebensraum vorkommen müssten, aber oft vergebens. Das Fehlen lässt Rückschlüsse auf den ökologischen Zustand des Lebensraumes schließen. In Wiesen, die früh und immer wieder gemäht werden und wo das Gras sofort in Siloballen verpackt wird, finde ich manchmal sogar keine einzige Heuschrecke mehr. Das habe ich letztes Jahr ein paar Mal erfahren, das erschreckt mich. Es gibt auch in Südtirol Gebiete, die völlig ausgeräumt und sogenannte ökologische Wüsten sind.

Welche Lebensräume sind in den Alpen am meisten bedroht?

Thomas: Es sind dies nicht nur die Lebensräume in der Talsohle, die durch Zersiedelung und Intensivierung der Landwirtschaft bedroht sind, sondern auch das Berggebiet, der Waldgrenzbereich. Oder die Bergwiese auf 1.800 Metern Meereshöhe, die sich in der Artenzusammensetzung kaum mehr von der Talwiese unterscheidet. Durch die Rodung und Urbarmachung des Waldgrenzbereichs in den letzten 1.000 Jahren hat der Mensch die Biodiversität gefördert: Die Wiesenarten, die es zwar immer schon gab, die aber auf natürliche waldfreie Rasenstandorte wie Lawinenrinnen beschränkt blieben, konnten sich ausbreiten, in die neu geschaffenen offenen Flächen zusammen mit anderen Pflanzenarten einwandern und dadurch auch vielen Insektenarten Lebensraum bieten. Durch die Erschließungen in den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Prozess häufig ins Gegenteil verkehrt: Die Intensivierung durch Düngung verringert die Artenvielfalt, der Bau von Skipisten, Stauanlagen, touristischen Infrastrukturen oder der Straßenbau im Gebirge haben massive Auswirkungen. Die Einebnung, Meliorierung und Einsaat von Flächen mit überwiegend nicht-heimischem Saatgut führt dazu, dass sich die Arten- und v. a. die natürliche genetische Zusammensetzung verändert.

Wie kann man das Bewusstsein für diese Veränderungen schärfen?

Petra: Das ist schwierig und eine Herausforderung. Wir verlieren zunehmend das Bewusstsein dafür, wie eine bunte Blumenwiese aussieht – die Kinder wachsen heute mit anderen Bildern auf. Ein sattes Grün begeistert.
David: Als Museum haben wir die Aufgabe zu sensibilisieren, die Menschen zum genauer Hinschauen zu bringen und zu erklären, dass die vermeintlich schöne grüne Wiese manchmal leider eine grüne Wüste ist. Der Alpenverein kann mithelfen, den Bezug zur Natur zu vermitteln und Interesse zu wecken. Durch die verschiedenen Apps für Smartphones wird es für Laien immer einfacher, Tier- und Pflanzenarten im Gelände zu bestimmen. Sich mit den eigenen Beobachtungen – z. B. über die App „iNaturalist“ – an einem großen Monitoringprojekt beteiligen zu können, ist ein großer gesellschaftlicher Wert. Wissenschaftler und interessierte Bürger aus der ganzen Welt tauschen sich bei „iNaturalist“ über Beobachtungen zur Artenvielfalt aus, man spricht von Bürgerwissenschaften (citizen science).

Was kann der Alpenverein für die Bewahrung der Artenvielfalt tun?

Petra: Die wichtigste Rolle und Verantwortung hat der Alpenverein dahingehend, sich weiterhin kritisch gegenüber Projekten zu äußern, die die Natur im Allgemeinen und die Artenvielfalt im engeren Sinne bedrohen.
Thomas: Die Fridays-for-Future- Bewegung formuliert es klar: Wir wissen genug und haben genug geredet, jetzt müssen nachhaltige und fundamental anders gerichtete Entscheidungen folgen, die unbequem sein werden. Alle reden vom Schutz des alpinen Raums als letzte Zuflucht großteils unberührter Biodiversität, aber wenn es drauf ankommt, sind weitere Erschließungen für kurzfristige Gewinne – wie beim Beispiel Glasturm am Rosengarten – anscheinend wichtiger als jedes Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Eine Forderung an die Politik muss daher sein, Eingriffe in der alpinen Stufe nur mehr dann zu ermöglichen, wenn es um wahrlich Existenzielles wie die Trinkwasserversorgung oder den Zivilschutz geht – sonst verkommen alle Reden zum Schutz der Artenvielfalt zu einer Farce.
David: Wir müssen uns bewusst sein: Es gibt keinen Plan(eten) B!

 

Eine umfassende Biodiversität ist für den Fortbestand der gesamten Biosphäre unverzichtbar. Dem Raubbau an ihr ist ehestens EU-weit durch strenge Richtlinien ein Ende zu bereiten ! Unsere Politiker sind aufgefordert entsprechend zu intervenieren !

Mi., 02.09.2020 - 10:18 Permalink

Die Obstanbaufläche Südtirols beträgt ca. 18.500 ha. Innerhalb, oder in unmittelbarer Nähe zum Anbaugebiet befinden sich ca. 450 ha geschützte Biotope. In den „alten“ Anbaugebieten von Salurn bis Schlanders sind es nicht mehr als 190 ha, also 1,3 %. Um der landesweiten Monokultur und der dadurch bedingten biologischen Verarmung das Minimum von 7% „gesunden, lebendigen Naturraum“ gegenüberzustellen, wären in der Talsohle etwa 1100 ha „naturbelassener“ und dementsprechend vielfältiger Lebensraum wieder herzustellen.

Beispielgebend könnte der sogenannte „Botanische Garten Trauttmansdorff“ in Meran, zu einem Biotop einheimischer Pflanzen, Kräuter und Früchte umgebaut werden und auf Standortfremde und Standortungerechte Pflanzen und Materialien verzichten. Die Speisekarte des eigenen Restaurants aus den Produkten dieses Gartens zu generieren, ausschließlich biologische Produkte anzubieten, mit Kochkursen für Erwachsene und Kinder die Vorteile einer gesunden Ernährung herauszustellen und die positive Beeinflussung des Landschaftsbildes zu bewerben. Salate aus Wildkräutern, Wildblumen (Sammeln weitab der Spritzmittel), Saatgutbank alter Sorten anlegen und Grundprodukte auch selbst verarbeiten. Die eigenen Veranstaltungen diesem Thema schwerpunktmäßig widmen. Kindergärten und Schulen zu animieren, diese Gedanken vermehrt in ihr Programm aufzunehmen, Gemeinden beraten in der Gestaltung von Grünanlagen usw. Eisen statt Edelstahl, Stroh, Hanf, Kalk, Lehm und Holz als Baustoffe wählen. Das wäre ein kleiner, aber richtungsweisender und prominenter Beitrag zur langsamen Wiederherstellung der Artenvielfalt.

Fr., 25.09.2020 - 14:28 Permalink