Fördert Mehrsprachigkeit Offenheit?
Diese Frage hat sich Barbara Gross von der bildungswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Bozen gestellt und aus den gewonnenen Erkenntnissen auch Schlussfolgerungen für Südtirols Schulsystem gezogen.
Schon früh definieren Kinder, was ihnen im Leben wichtig ist. Die Eltern spielen bei der Ausbildung dieser individuellen Grundwerte eine wichtige Rolle, aber auch das Umfeld und nicht zuletzt die Schule nehmen darauf Einfluss. Gross‘ Forschungsinteresse gilt nun der Frage, wie sich Zwei- und Mehrsprachigkeit auf die Ausbildung von Grundwerten auswirken. Sind mehrsprachige Kinder offener für Veränderungen oder streben sie eher Werte an, die in die Kategorie „Erhaltung“ fallen, also etwa Konformität, Tradition und Sicherheit?
Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, hat die am Uni-Standort Brixen forschende Bildungswissenschaftlerin 400 Viertklässler aus ganz Südtirol befragt. Auf bewährte Werte-Modelle aufbauend, wurden unterschiedliche Werthaltungen erhoben, die letztlich vier übergeordneten Grundwerten zugeordnet werden können: Offenheit für Veränderung, Selbst-Transzendenz (also etwa Universalismus und Wohlwollen), Erhaltung sowie Selbst-Stärkung (etwa Leistung und Macht). Bei der Auswertung der Daten wurde dann zwischen „emergent bilinguals“, also Schülern, die im Elternhaus nur eine Sprache verwenden, in der Schule aber eine zweite (und dritte) lernen, und solchen unterschieden, die auch außerhalb der Schule mehrere Sprachen verwenden. In letztere Gruppe fallen Kinder, die mit mehreren Sprachen aufwachsen, ob dies nun die Landessprachen sind oder solche aus dem Ursprungsland von Kindern mit Migrationshintergrund.
Warum sehnen sich mehrsprachige Kinder nach Erhaltung?
Interessant sind die Ergebnisse der Studie, denn sie widersprechen zum Teil dem, was man sich erwarten würde. In Sachen Offenheit für Veränderungen etwa erzielen die „emergent bilinguals“ signifikant höhere Werte als zwei- und mehrsprachige Schüler. Diese ordnen sich dagegen weit stärker als ihre angehend zweisprachigen Mitschüler in die Kategorie Konformität ein.
Eine logische Erklärung, allerdings gilt sie nicht überall: „Die Südtiroler Ergebnisse bilden im internationalen Vergleich eine Ausnahme“, erklärt die Bildungswissenschaftlerin.
Auf der Suche nach der Erklärung tendenziell auf Tradition und Bewahrung bedachter Mehrsprachiger musste deshalb tiefer gegraben werden. „Wir haben nach einem soziologischen Grund gesucht“, so Gross, die dafür auch auf die Ergebnisse paralleler eigener Studien zurückgreifen konnte. Fündig wurde man im Südtiroler Schulsystem, das streng nach Sprachgruppen trennt: „Dieses getrennte Schulsystem scheint nicht ideale Voraussetzungen für die Entwicklung von Offenheit zu bieten“, erklärt die Wissenschaftlerin, die sich deshalb mehr Forschung in diesem Bereich wünscht. „Wir müssen unser Schulsystem nicht nur daraufhin untersuchen, welche Folgen es auf die Leistung der Schüler hat, sondern auch darauf, welche individuellen und gesellschaftlichen Werte es fördert“, so Gross.
„Wir gehen davon aus, dass mehrsprachige Kinder und auch jene mit Migrationshintergrund unerwünschte Veränderungen in Kauf nehmen mussten und sich daher nach Stabilität und Konformität sehnen."
Getrenntes Schulsystem als Hindernis?
Die ersten Ergebnisse dieser Forschung zeigten jedenfalls, dass der geringe Austausch zwischen den Landessprachen und Kulturen zu einer Schließung anstatt zu einer Öffnung führe. Wenn man aber dem Grundwert der Offenheit für Veränderungen einen hohen Stellenwert zuschreibt, wie dies im modernen Europa sehr stark getan wird, dann müsse man, so die Wissenschaftlerin, über einen Abbau sichtbarer und unsichtbarer Barrieren im Schulsystem nachdenken, über strukturelle und systemische Neuerungen.
„Die Trennung unseres Schulsystems hat historisch funktioniert, die Gesellschaft hat sich aber verändert und wir müssen uns fragen, wie wir mit den anderen Sprachen in unserem Land umgehen“, erklärt Gross. Für sie ist klar, dass es irgendwann keine getrennten Schulsysteme in Südtirol mehr geben solle, sondern ein System, das alle Sprachen gleich verwende. „Nur damit garantieren wir Chancengleichheit, während wir heute doch eher Ungleichheiten entwickeln“, schließt die Bildungswissenschaftlerin der Freien Universität Bozen.
von Christian Rainer; aus Academia