Politik | Wahlbeteiligung

"Nie wieder geh i wählen!"

Noch nie hörte ich von so vielen Menschen, dass sie nicht wählen gehen, wie bei diesen Parlamentswahlen. Eine erschreckende Perspektive.
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In diesen Tagen habe ich unsere Kandidat:innen beim Flyern begleitet. Ich liebe das politische „Streetworken“. Wenn ich auf den Gehsteigen und Plätzen unterwegs bin, merke ich immer schnell, wie die Stimmung ist. Bei Wahlen weiß ich immer schon vorher, wie es ausgeht. Die „Piazza“ sagt es mir.

Diesmal sagt mir die Piazza etwas ziemlich Erschreckendes. Noch nie hörte ich so oft wie diesmal die Aussage „Danke, ich will nix. Ich gehe diesmal nicht wählen.“ Viele sagen auch: „Ich werde nie mehr wählen gehen“ oder „Mich kriegt ihr nie wieder in ein Wahllokal“.

Der Tonfall ist meistens resigniert, frustriert, manchmal auch zornig. Früher – auch andere Male hatte es solche Rückmeldungen gegeben – waren die Nicht-Wähler:innen fast immer sehr zornig. Sie schimpften, oder beschimpften einen. Jetzt erlebe ich, dass das Phänomen sich enorm ausbreitet, zugleich aber vom Ärger in eine andere emotionale Ebene gerückt ist, nämlich in die Enttäuschung, die Resignation.

Ich versuche stets, nachzufragen. Gerade in diesem Wahlkampf habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, das Nichtwählen zu verstehen. Es entstehen interessante Gespräche. Meistens verstehe ich mehr über den Frust der Menschen, selten bin ich imstande, jemand umzustimmen. Zu tief sitzen Enttäuschung und die Überzeugung, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist. Man sagt mir immer wieder: „I bin so stuff von der ganzen Politik“ oder „Ich kanns nicht mehr hören.“

Bei weiterem Nachfragen versande ich meistens. Was ich am besten nachvollziehen kann, sind Berichte über die Regierenden, die zu abgehoben sind, die keine Antworten auf Anfragen geben oder die die Probleme der Menschen nicht imstande sind zu lösen. Letzthin sprach ich zum Beispiel mit einer Gruppe von älteren Frauen, die sich ihre Miete kaum leisten können und die zugleich aus allen Unterstützungskategorien fallen, weil sie dann doch wieder „zu viel“ Rente beziehen.

Andere aber, die finden die Politik einfach nur zum Kotzen. Sie wollen mit ihrem Nichtwählen ihren Dissens mit „der Politik“ ausdrücken. Sie finden sich vom politischen System nicht widergespiegelt und auch nicht vertreten. Ich erkläre dann, wie ich selbst Politik empfinde. Dass es für mich eine Ehre ist, Volksvertreterin zu sein, dass ich dafür oft Tag und Nacht arbeite. Ich werde meist von der generellen Verurteilung ausgenommen („Na, Sie sind schon in Ordnung…“), aber von der Entscheidung rückt kaum jemand ab („…aber von der Politik will ich nichts mehr wissen, nie mehr“).

Mich sorgt dies alles zutiefst. Und ich finde, dass wir darüber eine große gesellschaftliche Debatte führen müssen. Es nutzt nicht, nach den Wahlen jedes Mal Krokodilstränen zu vergießen, ob der schwindenden Wahlbeteiligung. Wir müssen uns, als „Politik“ und als „Gesellschaft“ Gedanken machen, wie es zu dieser Kluft gekommen ist, und vor allem, wie wir sie wieder überwinden können. Wie kann es sein, dass es so vielen, auch engagierten Menschen, inzwischen gleichgültig ist, wer das Gemeinwesen verwaltet?

Ich weiß es nicht. Ich fürchte, dass dieser Rückzug ein tief sitzendes und lang andauerndes Phänomen ist. Es kann uns nicht gleichgültig sein. Wenn wir dem Klimawandel und den anderen Weltkrisen begegnen wollen, brauchen wir Konsens und demokratisches Vertrauen ineinander. Der Rücktritt der Menschen von der Aufgabe der gemeinsamen Weltgestaltung ist in jeder Hinsicht verheerend. Wir können ihn uns, gerade jetzt und heute, nicht leisten.