Chronik | Wetterlage

Die Gewalt von oben

Eine Lawine, kein Strom, kein Weiterkommen auf Straße und Schiene, keine Schule, keine Wahlen – und auch nach diesem Wochenende ist keine Entspannung in Sicht.
Schneechaos November 2019
Foto: LFV Südtirol

“Wir sind schon sicher, oder?” Mit seiner Handykamera hat Christian Gurschler am Sonntag Morgen das, was sich vor seinem Gasthaus in Martell abgespielt hat, festgehalten. Um 8.33 Uhr ging oberhalb der Ortschaft, auf 2.400 Metern, wo sich in den vergangenen Tagen zwei Meter Neuschnee angesammelt hatten, eine Lawine ab und bahnte sich ihren Weg ins Tal.

Die Schneemassen streiften das Dorf, zwei Häuser wurden teilweise beschädigt. Personen kamen keine zu Schaden. Auch die zweite Lawine, die sich um 9.28 Uhr löste, verschüttete niemanden – auch, weil die Landesstraße zuvor präventiv gesperrt worden war. Dennoch wurden mehrere Häuser vorsorglich evakuiert und die Bewohner in der Turnhalle des Gemeinschaftshauses untergebracht, wo sie die Nacht verbracht haben. Darunter auch Christian Gurschler, dessen Bilder inzwischen um die halbe Welt gehen.

Auch die Grüne Landtagsabgeordnete Brigitte Foppa hat die Nacht außerhalb der eigenen vier Wände verbracht: wegen eines Hangrutsches oberhalb ihres Wohnhauses in Montan:

 

“Derzeit ist das gesamte Martelltal von der Außenwelt abgeschnitten. Hintermartell sowie die Fraktion Waldberg sind nach wie vor ohne Strom und Telefon”, meldet der Marteller Bürgermeister Georg Altstätter am frühen Sonntag Nachmittag. Damit geht es den Martellern wie unzähligen anderen Südtirolern auch. Obwohl die Techniker der Netzbetreiber Edyna und Terna im Dauereinsatz stehen, waren am Sonntag Abend immer noch 2.400 Haushalte ohne Strom und teilweise auch ohne Mobilfunknetz. Denn nach einer kurzen Atempause hat ein weiteres Mittelmeertief in der Nacht von Samstag auf Sonntag dem Land erneut heftige Niederschläge beschert. Schnee, Regen und Schneeregen lassen Stromleitungen einreißen, Bäume umknicken – und sorgen für lahmgelegte Straßen und Gleise.

 

“Wieder ist allein heute fast ganzer Monatsniederschlag gefallen, im Großteil des Landes sind es um die 50 l/m2. Mehr im Pustertal mit 60-70 l/m2, weniger im Reschengebiet mit 20 l/m2”, analysiert Landesmeteorologe Dieter Peterlin am Sonntag Abend. “Die Schneefallgrenze war auch heute wieder sehr unterschiedlich. Zeitweise hat es bis in die ganz tiefen Lagen geschneit – z.B. Bozen –, zum Teil aber auch bis auf 2000 m hinauf geregnet. Dieser große Unterschied kommt dadurch zustande, weil die Temperaturen sich sowohl im Tal als auch auf den Bergen nahe 0 Grad befinden. In 2000 m liegen jetzt im Großteil des Landes 140 bis 190 cm Schnee, einzig im Obervinschgau sind es unter 100 cm. Einen positiven Effekt hat die relativ tiefe Schneefallgrenze auf die größeren Flüsse. Trotz großer Niederschlagsmengen verzeichnen Etsch, Eisack und Rienz nur einen leichten Anstieg der Pegel. Ganz anders als noch vor einem Jahr beim Sturmtief ‘Vaia’.”

Am Sonntag standen 180 Freiwillige Feuerwehren bei 833 Einsätzen im Einsatz. Inzwischen sind auch alle 500 Mitarbeiter des Straßendienstes aktiviert, um die Straßen, die von herabstürzenden Bäumen verlegt worden sind, wieder frei zu bekommen.Bleibt weg von den Wäldern, denn zu groß ist die Gefahr umstürzender Bäume aufgrund des nassen Untergrundes und des schweren Schnees”, so der Appell von Landeshauptmann Arno Kompatscher an die Bevölkerung.

 

Wo es nicht der Schnee ist, der für lahmgelegte Infrastrukturen sorgt, führen die anhaltenden starken Regenfälle zu Überschwemmungen und Wasserschäden. Unter anderem in der Landeshauptstadt Bozen. Dort ist nach der Mure von Freitag Abend, die die Brennerbahnlinie verlegte, am Sonntag erneut eine Mure abgegangen – an der Talstation der Kohlerer Seilbahn.

Aus Sicherheitsgründen bleibt die Vinschger Bahnlinie zwischen Meran und Mals bis heute, Montag, um 9 Uhr gesperrt. Ebenso die Pusterer Bahnlinie zwischen Franzensfeste, Innichen und Lienz. “Busersatzdienste gestalten sich angesichts der Straßen- und Witterungsverhältnisse sehr schwierig”, heißt es von der STA AG. Die Brennerbahnlinie musste am Sonntag aufgrund eines herabgestürzten Stromkabels zwischen Franzensfeste und Brenner und vorübergehend geschlossen werden. Am Abend verlegten Schneemassen bei Gossensass die Bahnstrecke.

In den Tälern, vom Obervinschgau bis ins Ahrntal, vom Passeier- bis ins Gadertal, sind dutzende Straßen für den Verkehr gesperrt. Die für Sonntag in Deutschnofen angesetzten Neuwahlen für den Gemeinderat wurden abgesagt und auf kommenden Sonntag (24. November) verschoben. “Diese Verschiebung erfolgt aus Sicherheitsgründen und wurde uns auch vonseiten der Zivilschutzexperten angeraten. Der Wahlgang kann unter diesen Umständen – unterbrochene Straßen- und Stromverbindungen – nicht ordnungsgemäß abgehalten werden. Wir haben es hier mit einer Situation von höherer Gewalt zu tun, weshalb per Dekret der Aufschub der Wahl verfügt wurde”, erklärt Arno Kompatscher als amtierender Präsident der Region.

 

Wie RAI Südtirol meldet, bleiben am heutigen Montag in der Gemeinde Deutschnofen sämtliche Schulen und Kindergärten geschlossen, ebenso wie in Welschnofen, Gummer, Sarntal, Moos in Passeier, im Schnalstal, in Gröden, im Gadertal und im gesamten Pustertal – bis auf Olang und Rasen-Antholz. Geschlossen bleibt auch die Mittelschule Josef von Aufschnaiter in Bozen, wegen einer defekten He

Auch wenn die Niederschläge am späten Sonntag Nachmittag nach und nach abgeklungen sind – “noch ist nicht alles überstanden”, meldet Dieter Peterlin. “In der Nacht von Montag auf Dienstag folgt das nächste Mittelmeertief – Nr. 7 in diesem November. Es wird zwar nicht mehr ganz so extrem, aber es regnet und schneit verbreitet und es sind auch noch größere Niederschlagsmengen von 20 bis 40 l/m2 möglich. Erst ab Mittwoch folgt eine nachhaltigen Beruhigung, womit sich die Situation allmählich entspannen wird.” Der Zivilschutzstatus Bravo (Voralarm) wurde bis Montag Mittag verlängert.