Die Straße zurückerobern
Überall dort, wo 23 Stunden am Tag ein Auto schmuck- und nutzlos in der Stadt herumsteht, könnte - gäbe es dieses Auto nicht - ein Kinderzimmer entstehen. Ein Pkw-Parkplatz misst nämlich so wie ein Kinderzimmer zwischen zwölf und 15 Quadratmetern. Während das Kinderzimmer (etwa in Düsseldorf Mitte) aber rund 2.000 Euro im Jahr kostet, beträgt die Jahresgebühr für einen Parkplatz in derselben Zone etwa 30 Euro: 12 Quadratmeter öffentlicher Raum, der zu Spottpreisen privat genutzt werden darf.
Um Menschen für diese und ähnliche Tatsachen zu sensibilisieren und Veränderungen im Bereich der Nutzung von Straßen und des öffentlichen Raums einzuleiten, arbeitet Lisa Kreft an der Initiative “Straßen für Menschen”. Das Projekt, das vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) umgesetzt und von Phineo gefördert wird, engagiert sich für eine “Verkehrswende von unten” und für eine gerechtere Verteilung von Verkehrsflächen unter allen VerkehrsteilnehmerInnen.
Salto.bz: Frau Kreft, Sie arbeiten am Projekt “Straßen für Menschen”, wobei es unter anderem darum geht, die Straße als Lebensraum zurückzuerobern. Was bedeutet das ganz konkret?
Lisa Kreft: Das Projekt besteht aus verschiedenen Bausteinen mit denen wir gesellschaftliche Initiativen und aktive Personen darin unterstützen, Verkehrsflächen lebenswerter zu gestalten. Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf den urbanen Raum, wo häufig ein akuter Platzmangel herrscht.
Was können wir uns unter diesen Bausteinen vorstellen?
Wir haben einmal unsere Plattform “Straße zurückerobern”, wo wir über gelungene Initiativen berichten. Wie hat jemand etwas umgesetzt? Wie fing es an? Dort finden sich Anleitungen für Personen, die ein konkretes Projekt umsetzen möchten, aber auch Beispiele für jene, die noch nicht genau wissen, was sie machen wollen. Ein weiterer Baustein unseres Projekts ist das Format “12qmKULTUR”. Dabei zeigen wir in Zusammenarbeit mit verschiedenen Mobilitätswende-Veranstaltungen und Initiativen vor Ort verschiedene Möglichkeiten auf, die auf nur 12 Quadratmetern - also der Größe eines durchschnittlichen Parkplatzes - umgesetzt werden können. Wir bespielen also quasi einen Tag lang den Parkplatz neu und zeigen auf, was alles auf zwölf Quadratmeter passieren kann; eine Art Mini-Kulturfestival mit Podiumsdiskussionen, Lesungen und Mitmach-Workshops, die häufig von Künstlerinnen und Künstlern begleitet werden. “Straßen für Menschen” bietet zudem Workshops an, bei denen Mitglieder mit konkreten Problemen auf uns zukommen können; die fehlende Sichtbarkeit von einzelnen Projekten zum Beispiel oder Stolpersteine in der Politik, die die Umsetzung der Projekte erschweren. Wir veranstalten dann zu den einzelnen Themen verschiedene Workshops, zu denen wir Expertinnen und Experten einladen, um die Umsetzung vor Ort voranzutreiben.
Im Moment wird der Großteil des Straßenraums durch Privatautos genutzt. In Berlin liegt der Anteil beispielsweise bei 60 Prozent, während nur 32 Prozent aller Verkehrsteilnehmer ein Auto nutzen. Warum werden diese Verhältnisse kaum hinterfragt?
Ich denke, dass es hier um Gewohnheiten geht. Viele haben das Gefühl, ein Auto zu brauchen und noch dazu das Recht zu haben, vor der Haustür zu parken. Eine Bus- oder U-Bahnhaltestelle ist idealerweise etwa 300 Meter entfernt; so weit müsste man theoretisch auch bis zum Auto laufen können! Aber ein Parkplatz vor dem Haus ist gerade in Deutschland für viele noch immer eine Selbstverständlichkeit. Dabei nehmen wir uns mit dieser Einstellung aber vor allem selbst etwas weg, nämlich Freiraum und Lebensqualität. Die Pandemie und die überhitzten Städte im Sommer tragen aber langsam dazu bei, dass wir unsere Gewohnheiten hinterfragen.
Um neue Gewohnheiten zu schaffen, muss sich aber auch das Stadtbild ändern. Sie selbst schreiben, dass das planerische Leitbild der autogerechten Stadt eigentlich schon seit den 70er-Jahren nicht mehr existiert, aber trotzdem weiter ausgebaut wird. Wie passt denn das zusammen?
Das ist tatsächlich ein Paradoxon. Wir haben das "Pfadabhängigkeit in der Planung" genannt. Das heißt, die Planung und Umsetzung der Leitbilder dauert unglaublich lange. In Berlin wird beispielsweise immer noch an einer Autobahn gebaut, die vor über 30 Jahren geplant wurde! Mittlerweile haben wir natürlich ein komplett anderes Leitbild und es wird überlegt, wie die Autobahn umgenutzt werden könnte, durch Begrünung oder Urban Gardening zum Beispiel. Dabei ist die Autobahn noch gar nicht fertig gebaut.
Heute wollen sich viele Städte zur Fahrradstadt mausern, aber auch hier hakt es bei der Umsetzung…
Es gibt in Berlin eine Fahrradstraße: Man fährt da mit dem Fahrrad zwischen den Autos rauf und knallt dann ganz plötzlich wieder auf eine viel befahrene Straße (lacht). Das Problem ist hier häufig, dass es im öffentlichen Raum viele sektorale Zuständigkeiten gibt, die nicht richtig ineinandergreifen. Die einzelnen Bezirke stimmen sich vielleicht nicht untereinander ab, der eine ist in seiner Planung schneller, der andere braucht mehr Zeit, an vielen Stellen herrscht ein Mangel an qualifiziertem Personal… Dann gibt es natürlich vormals festgeschriebene Planungen, die die Ausarbeitung von ganzheitlichen Fahrradnetzen erschweren. Mittlerweile gibt es aber auch Beispiele, wo das Ganze gut funktioniert, etwa in Münster, wo man versucht, die einzelnen Teilstrecken zu verbinden. Es braucht aber vor allem qualifiziertes Personal, Kommunikation, Zusammenarbeit und vor allem auch die Beteiligung der Bewohner.
Apropos Beteiligung: Wie schafft man es, die Menschen hier mitzunehmen und auch Kritikerinnen und Kritiker von einem geplanten Projekt zu überzeugen?
Hier gibt es verschiedene Ansätze, aber es ist wichtig, die Menschen von Anfang an zu informieren und vielleicht auch schon bevor überhaupt etwas in Aussicht gestellt wird, zu befragen. In Karlsruhe und in Münster wurden beispielsweise Stadtspaziergänge organisiert, wobei die Menschen Anliegen anbringen oder Fragen stellen durften. So können viele Fragen und Kritikpunkte schon vor der Initiierung eines Projekts aus dem Weg geräumt werden. Was ist mit gehbehinderten Menschen? Was passiert mit den Parkplätzen? All diese Fragen können diskutiert werden. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass “autofreie Zonen” keine Zonen sind, wo überhaupt keine Autos fahren. Es wird immer Möglichkeiten für mobilitätseingeschränkte Personen, für den Krankenwagen, die Feuerwehr oder Lieferungen geben. Durch Beteiligung und eine klare Kommunikation kann Kritikern häufig der Wind aus den Segeln genommen werden und aus der scheinbaren Verlusterfahrung ein Gewinn.
Viele können sich trotzdem nicht vorstellen, warum Sie eine autofreie Zone brauchen sollten.
Hier sind Visualisierungen und Erfahrungen ganz wichtig: Wie könnte das dann aussehen, wenn es anders aussieht? Und was kriege ich da überhaupt? Wie können sich meine Wünsche da einfügen? Solche Planungskonzepte sind natürlich auch komplex, man muss auch verstehen, dass man nicht über einfach eine Parkbank hinstellen oder einen Fahrradweg durchziehen kann. Sie sind aber nicht so komplex, dass man sie den Leuten nicht erklären könnte. Ein anderer Punkt ist das Experiment: Man muss Experimente zulassen und sie auch über einen längeren Zeitraum weiterführen, also nicht nur über einen Monat, sondern über ein halbes Jahr! Und man muss die Experimente als temporäre Maßnahmen ankündigen, weil dann machen sie nicht so viel Angst. Man drängt den Bewohnern keine Fahrradstraße auf, sondern sagt: Wir gucken mal, was mit den Anwohnern passiert, was mit dem Einzelhandel passiert, was mit dem ÖPNV passiert, wenn hier eine Fahrradstraße bauen.
Können Sie hier einige konkrete Beispiele nennen? Man kann wohl kaum eine Straße für ein halbes Jahr so mir nichts, dir nichts zur Fahrradstraße umbauen oder?
Die Friedrichstraße in Berlin wäre so ein Beispiel. Für die wirtschaftlich kränkelnde Einkaufsstraße plante man zunächst eine Sperrung von einem halben Jahr, dann blieb sie ein Jahr gesperrt und jetzt bleibt sie dauerhaft zu. Die Friedrichstraße ist mittlerweile eine reine Fahrrad- und Fußgängerzone. Das ist natürlich nicht von heute auf morgen so ganz ohne Probleme passiert. Es war ein Experiment, bei dem es galt, viele Dinge erst herauszufinden und Nachbesserungen anzubringen. Wichtig bei solchen Experimenten ist, dass systematisch gedacht wird. Wie können Menschen ihre Einkäufe von A nach B bringen? Wie muss sich der öffentliche Nahverkehr anpassen? Und man muss die Experimente auch entsprechend begleiten. In Berlin wurde das Experiment durch die TU Berlin begleitet. Dabei fand man auch heraus, dass der Handel langfristig von der Maßnahme profitiert hat - auch wenn es einige Zeit gebraucht hat, um diese Ergebnisse zu erzielen.
Wie können die politischen Institutionen solche und ähnliche von Bürgerinnen und Bürgern initiierte Projekte fördern?
Ich denke, dass physische Anlaufstellen hier sehr wichtig sind. In Hannover gibt es beispielsweise ein Bürgerbüro, wo Ideen und Initiativen der Bürgerinnen und Bürger gebündelt werden. Dabei trifft sozusagen Verkehrswende von oben auf Verkehrswende von unten. Das funktioniert wirklich sehr gut! Aufgrund der Pandemie passiert vieles davon jetzt digital, aber in den Sommermonaten wurden einfach Teile der Hannover-Innenstadt freigeräumt neuen Ideen und Projekten, aber auch aktiven Bürgerinnen und Bürgern ein Podium geboten. Making Frankfurt ist auch so ein gutes Beispiel, wo einfach über ein Wochenende verschiedene Experimente in der Stadt gedreht wurden: Tanz, Kultur, Tiny Houses… Es war ein experimentelles Wochenende, an dem gefragt wurde: Frankfurt, wo willst du hin? Immer funktioniert das natürlich nicht so gut.
Die Initiative Straßen für Menschen arbeitet vor allem im urbanen Raum. Gibt es auch Anwendungsbeispiele, die sich im ländlichen Raum gut umsetzen lassen?
Im ländlichen Raum gibt es oft das Problem, dass die einzelnen Ortschaften nicht gut angebunden sind. Die Zersiedlung erschwert dieses Problem zusätzlich. In Deutschland wurden in den 90er-Jahren sehr viele Bahnstrecken lahmgelegt und kleinere Bahnhöfe verkauft. Um diese Ortschaften wieder besser anzubinden, müssen Bahnhöfe und Gleise reaktiviert und die Taktung erhöht werden. Das Angebot muss sowohl qualitativ als auch quantitativ verbessert werden. Als Ergänzung zum ÖPNV gibt es aber auch Initiativen wie die Mitfahrbank; das ist eine Bank am Straßenrand, an der verschiedene Schilder angebracht werden, die man - je nach Zielort - hochklappen kann. Die Berechnungen der Mitfahrbank-Initiative haben ergeben, dass die Menschen im Schnitt dabei nur sechs Minuten warten, bis jemand kommt und sie zum Zielort mitnimmt.
Das geht aber nur, wenn man nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein muss, oder?
Mittlerweile wurde das Ganze so weiterentwickelt, dass es auch per App funktioniert! Dann kann man Fahrten auch genauer planen.