Gesellschaft | Gastkommentar

Mutation der Gesellschaft

Die Furcht vor Mutanten führt zu Fehlleistungen auf allen Ebenen. Drei Beispiele aus Nord-, Ost- und Südtirol.
Mutation
Foto: upi

SARS-CoV-2 begleitet uns nun seit mehr als einem Jahr. Die Monate sind krisengezeichnet. Nach initialer Schockstarre, getriggert durch Militär-LKWs beladen mit Särgen in der Lombardei, verfiel Europa in einen weitgehend unreflektierten Lockdown. Ganz im Sinne dessen in aufführender Position ist es besser alles, als zu wenig zu tun, die Sinnhaftigkeit und der Verhältnismäßigkeit der gesetzen Maßnahmen wurden kaum offen diskutiert oder reflektiert revidiert.

Im März 2021 hat sich nichts geändert, die Welt befindet sich weiterhin im Vernunftspanikmodus – derzeit getriggert durch die Mutanten. Rein evolutionsbiologisch mutiert jedes Lebewesen; einschließlich dem Menschen. Jedes Virus, jedes Coronavirus unterliegt pro Monat zwei punktuellen Veränderungen seines Genomes. Entsprechend finden sich ausgehend des als Wuhan-Wild-Typ bezeichneten Ur-Coronavirus inzwischen weltweit mehr als 15.000 Genotypen, deren spezifische Eigenschaften wenig analysiert sind. Klar ist nur ein Faktum, und das seit Charles Darwin: Durchsetzen werden sich jene, die sich am leichtesten verbreiten. Dies impliziert hohe Viruslasten mit einer hohen Anzahl asymptomatischer Verläufe. Die Welt blickt konzentriert auf zwei Varianten, quasi VIPs unter den Mutationen: die britische und südafrikanische Variante. Sie sind berühmt; dass sie tatsächlich gefährlicher sind als alle anderen Varianten, ist weniger gesichertes Wissen als sensationsheischende Spekulation. Die Furcht vor ihnen führt zu Fehlleistungen auf allen Ebenen der Gesellschaft, ganz im Sinne „Angst essen Seele auf“. Oder anders formuliert: Die Furcht vor dem Unbekannten führt zur Parallel-Mutation der Gesellschaft.

Drei Beispiele aus der Europaregion Tirol: Am 4. Februar 2021 tritt die führende Nordtiroler Virologin vor die Medienvertreter und fordert die Abschottung (Nord-)Tirols, da die südafrikanische Variante mehrfach nachgewiesen wurde. Und inszeniert diesmal nicht Ischgl, sondern ein grenzübergreiffendes Galtür-Ereigniss menschlicher und ökonomischer Superlative. Stimmen anderer Experten, welche das reale globale Vorkommen präzisieren, werden nicht wahrgenommen, der offene interdisziplinäre wissenschaftliche Diskurs bleibt aus. Bayern, Österreich und Italien schließen die innereuropäischen Grenzen zum zweiten Mal binnen eines Jahres. Zerschlagen funktionierende Wirtschaftsräume und stürzen das Leben von tausenden Menschen ins Chaos. Der infektiologische Sinn der vollzogenen Maßnahmen bleibt auch einen Monat nach Vollstreckung unsichtbar.

Die Welt befindet sich weiterhin im Vernunftspanikmodus – derzeit getriggert durch die Mutanten.

Bei nun geschlossenen Grenzen werden auf Südtiroler Seite SARS-CoV-2 positiv getestete LKW-Fahrer fernab der Heimat ohne Sprachkenntnisse und ohne rechtlichen Beistand in Begleitung eines wachsamen Sanitäters mindestens zehn Tage zwangsinterniert. In Proben von Ende 2020/Anfang 2021 aus der Marktgemeinde Schlanders (ital. Silandro wird) im Instituto Superiore di Sanità die südafrikanische Mutante nachgewiesen. Konsekutiv wird die zirka 100 Kilometer östlich gelegene Gemeinde Villanders (ital. Villandro) kurzfristig abgesprerrt. Es handelt sich um einen Tippfehler, der aus Hast und Panik erst hinterfragt wird, als der zuständige Bürgermeister der zu Unrecht betroffenen Gemeinde nachrecherchiert.
 

In Osttirol findet man sich in einem Konflikt zwischen medizinischer Realität und politischen Interessen wieder. Der lokal wie international medizinisch und wissenschaftlich praktizierende Virologe wird seitens der lokalen Entscheidungsträger ohne fachlich Begründung mitten in der Pandemie seines Amtes enthoben und Stimmen, die sich seiner einsetzen, werden mit Kündigung oder zivilrechtlicher Belangung sanktioniert. Unter den Corona-Toten befindet inzwischen auch Voltaire: "Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen."

Das Virus passt sich evolutionsbiologisch an seinen Wirt an. Und Wir???

Wir alle befinden uns seit dem Tag unserer Geburt auf unserem letzten Weg, dieser nennt sich unser Leben. Der Gestaltungsspielraum und die damit verbundene Verantwortung obliegen jedem einzeln von uns. Faktisch wissenschaftlich reduziert auf Osttirol, zirkulieren in der Bevölkerung von knapp 50.000 Einwohnern auf 2000 Quadratkilometern unter aktuell 200 SARS-CoV-2 erkrankten Menschen elf Genotypen, darunter die britische und tschechische Variante sowie neun wahrscheinlich rein lokale Varianten und der ursprüngliche Wildtyp – ohne signifikaten Impact auf das Gesundheitssystem, aber mit signifikantem Social Health Impact durch die flankierenden Maßnahmen. Das Virus passt sich evolutionsbiologisch an seinen Wirt an. Und Wir??? Kommt das Wort Mutante vom lateinischen 'mutus' der Stumme und der konsekutiven Devolution der demokratisch-liberalen Gesellschaft.