Gesellschaft | Nachruf

Patate auf Deutsch

Mit 100 Jahren ist der Agronom Giovanni Biadene, detto Franco, gestorben. Er war der „Erdäpfeldoktor“ des Pustertales. Und hat „seinen Krieg“ geführt.
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Foto: Privat
Warum gerade das Pustertal? Warum wurde das Pustertal zur Wiege des Kartoffelbaues nicht nur von Südtirol, sondern ganz Italiens? Die Frage stellte ich dem Herrn Professor, als ich ihn vor zehn Jahren in Bruneck besuchte. Die Antwort war damals: die geeignete Höhe, die harten Winter, genug Regen, wegen des relativ hohen Viehbestands ausreichend Mist, also Dung – und die Ostwest-Lage des Tales. Ostwest-Lage? Das interessierte mich. Warum gedeiht die Kartoffel ost-westlich gelegen besser als etwa nord-südlich?
 
 
 
Die Antwort des Gelehrten war ein Vortrag in Kartoffelkunde. Auf das Wesentliche verkürzt aber: Der Hauptfeind der Kartoffelstaude ist die Krautfäule, ein Pilz, der seine Heimat in der feuchtheißen Po-Ebene hat und von dort das Etschtal heraufzieht, sich  hier aber weniger leicht in die Quertäler hinein verbreitet. Das Pustertal hatte somit leicht schadenfroh herabschauen auf die verfaulten Brixner. Daher die Hochkonjunktur der Pustertaler Saatkartoffel schon seit der Nachkriegszeit. Die Pustertaler Saatbaugenossenschaft lieferte zeitweise den Großteil gesunden Saatgutes für die Speisekartoffeln ganz Italiens.
 
Heuer, am 12. Jänner, wurde der Professor 100. Ich besuchte ihn noch einmal und fragte ihn: Das Pustertal ist immer noch das weltbeste Anbaugebiet für die Saatkartoffel? „Klar“, war die Antwort, dann aber, es muss Altersmilde sein: „Die Holländer sind auch stark“. Wie das? Wie solche Relativierung, frage ich. Der Erdäpfel-Versteher hat keine klare Erklärung dafür, aber eine Meinung erlaubt er sich: „Che ne so, forse perché stanno ancora più lontano di noi da quelle porcherie di là giù“.
 
Giovanni Biadene ist diesen Samstag in Bruneck gestorben. Fünf Monate nach seinem 100sten Geburtstag. Genannt wurde er zeitlebens nach seinem Zweitnamen Franco. Die Familie hieß ihn in der Todesanzeige „Erdäpfeldoktor“. Die Anführungszeichen sollten wohl eine augenzwinkernde Liebenswürdigkeit sein. Ein Doktor war er, und die Erdäpfel, also Kartoffeln (er selber sprach nur von „tuberi“, Knollen) waren sein Forschungsfeld. 40 Jahr lang beruflich und nicht viel weniger Jahr lang im Ruhestand. Bis zuletzt studierte er Kartoffeln. Hinter seinem Ohrensessel, den er erst vor ein paar Tagen zum Sterben im Krankenhaus verließ, türmt sich eine Bücherwand voll Kartoffel-Literatur, ein halbes Dutzend Bücher von ihm selber geschrieben.
 
Ein sehr spezielles Exemplar von einem Brunecker ist mit Franco Biadene gestorben. Er war gebürtig aus Venedig. Jahrgang 1922. Die Familie Biadene stammt aus Sappada. „Ploden!“, korrigierte mich der Doktor sofort. Es ist jene deutsche Sprachinsel (angeblich von Deferegger Einwanderern besiedelt), die sich erst vor ein paar Jahren per Volksentscheid und anschließendem Verfassungsgesetz vom Veneto zur autonomen Region Friaul davongemacht hat. Biadene leitet sogar seinen Familiennamen vom Ort Ploden ab. Beweise dafür hat er nicht.
 
Unser Plodener wuchs nicht unter Kartoffeln auf. Er hatte schon ein Leben davor, ein höchst bemerkenswertes sogar. Biadene studiert in Bologna Agrarwissenschaften mit Spezialisierung auf Kräuterkunde. Da trifft ihn mitten im Krieg, Sommer 1943, die Einberufung zum Militär. Mussolini ist schon gefangen genommen, aber das faschistische Italien noch mit Hitler-Deutschland im Krieg. Der junge Biadene ist ein aufrechter, ja ein fanatischer Faschist, und den Beweis liefert er schon nach ein paar Wochen Dienst. 8. September 1943, General Badoglios Italien kapituliert vor den Alliierten, die deutsche Wehrmacht besetzt Norditalien, befreit Mussolini, gründet die Repubblica Sociale di Salò. Biadenes Kompagnie wird vor die Entscheidung gestellt: desertieren oder mit den Deutschen kämpfen. Als einziger seiner Kompagnie tritt Franco Biadene vor und sagt: sì! Der Spott der plötzlich allesamt antifaschistischen Kameraden habe ihn nicht überrascht. Er selber hielt seine Entscheidung für die einzig kohärente, einen „tradimento per coerenza estrema“. Fortan war der Faschist ein Soldat der deutschen Wehrmacht.
 
Franco Biadene erzählt das alles in einem bisher unveröffentlichten Büchlein mit dem Titel „La mia guerra“. Ist nicht grad „Mein Kampf“, aber doch die Biografie eines sehr deutschen Italieners. Der Venezianer beendet sein deutsches Soldatenleben mit dem Zusammenbruch der Wehrmacht und Hitler-Deutschlands, gerät in amerikanische Gefangenschaft und erlebt zuletzt ein fast fideles Haftzeitl im Brixner Kerker, wo er sich am Chorgesang aus dem angrenzenden Dom erfreut. Biadene lebt nach seiner Freilassung noch ein paar Jährchen in Deutschland, findet dort Arbeit und hat nur gute Erinnerungen an Land und Leute. Er verdanke, sagte er, seiner „faschistischen Kohärenz“, dass er passabel Deutsch gelernt habe, und in Südtirol fühlte er sich daheim, das sagte er später immer: „weil Südtirol ist mein Deutschland“. Seinen Sohn Paolo schrieb er in Bruneck in die deutsche Volksschule ein – ohne Wissen und zu nicht kleinem Verdruss seiner Frau, der Kindsmutter. Diese sprach kein Wort Deutsch, nicht mit ihrem Franco und nicht mit dem kleinen Paolo. Sie fühlte sich mit der Schulwahl von ihrem Mann hintergangen. Paolo setzte nach deutsch überstandener Grundschule alle weiteren Schulstufen auf Italienisch fort, wurde Architekt und ist heute leitender Landesbeamter für Landschaftsschutz.
 
 
 
Franco Biadene schloss 1949 sein Agrar-Studium in Bologna ab, fand eine Anstellung bei der Federazione italiana dei consorzi agrari, und wieder halfen ihm seine Deutschkenntnisse: Er übernahm die Stelle einer Art wissenschaftlichen Leiters am damals schon gut im Schwunge befindlichen Consorzio agrario in Bruneck. Dort war mit Dr. Theobald Gebert, dem Vater der ehemaligen Landesrätin Waltraud Gebert-Deeg, und seinem Mitarbeiter Seppl Steinkasserer zwar bereits viel Saatkartoffel-Pionierarbeit geleistet. Mit Biadene kam der agrartechnische Fachmann und Türöffner zum – dann wichtigsten – italienischen Markt hinzu. Den Pustertaler Kartoffel-Boom der Nachkriegszeit als Erfolg der faschistischen Autarkie-Politik zu sehen, würde bedeuten, die Verdienste der Pioniere wie Gebert und Steinkasserer sowie die Leistung der später in Konkurrenz zum Consorzio gegründeten autonomen Saatbaugenossenschaft zu schmälern. Doch der Titel „Erdäpfeldoktor“ oder wahlweise „Erdäpfelpapst“ blieb dem zugewanderten Italien-Deutschen erhalten.
 
Seit nunmehr 40 Jahren war Franco Biadene im Ruhestand. Seine „tuberi“, die Knollen, aber hörten damit nicht auf, ihn zu beschäftigen. Er las und schrieb, schrieb weitgehend für sich als einzigem Leser, was ihm nicht die Freude daran verleidete. Er blieb gefragter Gutachter, gelegentlich für die eine Partei, deren Gegenpartei und das Gericht gleichzeitig, und das nicht nur in Erdäpfel-Fragen. Den Rückgang des Kartoffel-Anbaues im Tal verfolgte er mit Bedauern, aber schicksalsergeben. Er begründete ihn mit dem steigenden Wohlstand. „Je reicher die Leute, desto weniger essen sie Erdäpfel.“ Ganz verschwinden sah er seine geliebten Knollen nie. „Wenn die Italiener den Gürtel wieder enger schnallen müssen, so wie es momentan aussieht, bekommt die Kartoffel wieder eine Chance“, prophezeite er mir zum 100sten Geburtstag. Da war Giovanni Biadene, detto Franco, schon die Verwirklichung des klassischen altrömischen Menschenideals: Bauer und Philosoph. Am Dienstag wird er in Bruneck begraben.  Auf seiner Parte steht: „Non fiori, ma opere di bene.“ Der Wunsch dürfte von ihm stammen.