Gesellschaft | Seniorenbetreuung

„Es ist ein regelrechtes Gebettel“

600 Pflegebetten in Alten- und Seniorenwohnheimen können zuzeit nicht belegt werden, weil das Personal fehlt. Landesrätin Waltraud Deeg über die derzeitige Situation.
Waltraud Deeg
Foto: ASP/Brucculeri
Salto.bz.: Frau Landeshauptmann-Stellvertreterin Deeg, wie ist derzeit die Situation in den Pflege- und Seniorenheimen aufgrund der Suspendierungen. Hat sich die Lage inzwischen entspannt?
 
Die Situation ist immer noch schlimm. Und es betrifft ja nicht nur die Seniorenwohnheime, sondern auch die Behindertenwohnheime, Dienste für Menschen mit Beeinträchtigung, Dienste für Minderjährige bis hin zu Kleinkinderheimen – es betrifft also sehr viele Einrichtungen. Allein in den Seniorenwohnheimen wurden 176 Mitarbeitende suspendiert. Das ginge ja noch – das Problem ist jedoch, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter prophylaktisch gekündigt haben. Die Zahl der Kündigungen übersteigt sogar die Zahl der Suspendierungen. Wenn die Impfpflichtig nur partiell für einen Sektor eingeführt wird, weichen die Menschen auf andere Sektoren aus, wo beispielsweise auch Testungen akzeptiert werden. Wir haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Tourismus und an andere Wirtschaftssektoren verloren. Das Problem betrifft dabei sowohl den sanitären, den sozio-sanitären als auch den sozialen Bereich.
 
Ein dauerhaftes Problem?
 
Das wissen wir derzeit noch nicht. Wie mir die Führungskräfte und Leiter der Einrichtungen bestätigt haben, wird die Situation umso schwieriger, je länger sie andauert. Wenn die Impfpflicht fallen würde oder in diesen Diensten zumindest ein Green Pass Base anerkannt würde, also mit der Möglichkeit, sich testen zu lassen, dann würden sich wahrscheinlich mehr Mitarbeitende fürs Bleiben entscheiden. Aber diese Entscheidung liegt nicht bei uns, sondern hier sind wir an die staatlichen Vorgaben gebunden und insofern können wir nur auf staatlicher Ebene auf dieses Problem aufmerksam machen. Leider können wird zurzeit nicht viel mehr ausrichten.
 
 
 
Sehen Sie eine Chance, dass die Impfpflicht fällt?
 
Das Problem ist, dass auch dort, wo die Impfpflicht gilt, es unterschiedliche Anwendungen gibt. So darf ein Genesener in der Schule unterrichten, aber nicht in einem Seniorenwohnheim arbeiten. Zudem gibt es ganz unterschiedliche Auslegungen: Wir hängen hier an der Interpretation des Sanitätsbetriebes und der Sanitätsbetrieb wiederum an der Staatsadvokatur und am Gesundheitsministerium – das ist für die Menschen teilweise kaum noch nachvollziehbar – ich verstehe es auch nicht, das muss ich ehrlich zugeben. Wir brauchen deshalb klare Lösungen, die einheitlich geregelt sein müssen. Ob eine solche Regelung dann tatsächlich kommt? Ich hoffe es, weil wir es auf Dauer nicht durchhalten werden. Es melden sich Familien, es melden sich Menschen mit Beeinträchtigung, sie schildern mir teilweise dramatische Situationen. Behindertenwerkstätten, die aufgrund von Personalmangel geschlossen werden müssen, das ist kein Zustand, der auf Dauer so bleiben kann.
 
Wie viele Pflegebetten können aufgrund des Pflegekräftemangels nicht besetzt werden?
 
Die Erhebung, die im November durchgeführt wurde, hat ergeben, dass rund 600 Betten aufgrund des Personalmangels derzeit nicht belegt werden können. Langsam tut sich aber auch hier etwas und die einzelnen Heime beginnen, wieder Bewohner aufzunehmen. Das hängt allerdings weniger damit zusammen, dass diese 600 fehlenden Betten abgebaut werden, sondern das steht im Zusammenhang mit einer leider traurigen Statistik. Die Verweildauer in den Seniorenwohnheimen hat im Vergleich zu früher abgenommen, weil heute die Seniorinnen und Senioren zumeist als schwere Pflegefälle ins Heim kommen. Aufgrund ihrer Prognosen haben sie eine kürzere Lebenserwartung, während früher die Menschen mitunter zehn Jahre im Seniorenwohnheim verbracht haben. Deshalb ändert sich an den 600 fehlenden Betten, die dringend gebraucht werden, auch nichts.
 
Ich hoffe es, weil wir es auf Dauer nicht durchhalten werden.
 
Vor Kurzem haben Sie in einer Pressemitteilung erklärt, dass das „Burgenländische Pflegemodell“ eine Option für Südtirol wäre. Welche Maßnahmen könnten übernommen werden und in welchem Zeitraum?
 
Im Burgenland hat nicht das Land, sondern eine Gesellschaft die Organisation dieses Pflegemodells übernommen – das muss man ehrlichkeitshalber dazusagen. Denn auch in diesem österreichischen Bundesland kann die öffentliche Verwaltung nicht jeden direkt in ein Beschäftigungsmodell übernehmen. Das Burgenland händelt die Pflege von Seniorinnen und Senioren über Gesellschaften und Genossenschaften, welche die Pflegekräfte beschäftigen – so etwas wäre auch bei uns vorstellbar, etwa nach dem Tagesmütter-Modell. Allerdings würde das für den öffentlichen Haushalt eine enorme Kostensteigerung bedeuten, weshalb darüber diskutiert werden muss, ob wir das Geld bereit stellen wollen oder nicht. Ich persönlich halte es für ein gutes Modell. Was mir besonders gut gefällt ist die Absicherung der Pflegezeiten, obwohl wir das in Südtirol bereits haben. Welches Modell schlussendlich das Bessere ist, muss man sehen. Im Burgenland wurde allerdings ein Konzept entwickelt, mit dem Personen, die zuhause ihre Angehörigen pflegen, dieses Know-How mitnehmen und professionalisieren können bzw. sie bleiben den Pflegediensten erhalten – zumindest jene, die es möchten. Dieses Konzept der Professionalisierung der Fähigkeiten stellt einen Mehrwert für alle dar – eine Win-Win-Situation sozusagen – sowohl für die Pflegekräfte, für jene, die Pflege brauchen, als auch für die Gesellschaft. Insofern finde ich dieses Modell sehr, sehr gut. Allerdings setzt es auch voraus, dass die Ausbildung flexibler gestaltet wird. Wir haben derzeit in der Pflege einen sehr komplexen Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten, die sicher verbesserbar sind …
 
… und die sicher längere Zeit in Anspruch nehmen werden?
 
Das geht schnell. Ich darf Ihnen ehrlich sagen, wenn man will und sich alle Akteure auf etwas einigen, dann fallen solche Entscheidungen sehr schnell. Das Problem ist eher, die harten Bretter in manch lieb gewonnenen Institutionen zu bohren. Derartige Kooperationen und Ausbildungsmodelle hat es ja bereits gegeben – also wohnortnahe, praktische Ausbildungen in Kooperation von Schule und Weiterbildungsorganisationen wie beispielsweise vom Bildungshaus Lichtenburg und der Berufsschule für Sozialberufe Hannah Arendt, aber auch Bezirksgemeinschaften könnten Pflegekräfte vor Ort ausbilden.
 
 
 
Warum wurden diese Modelle aufgegeben?
 
Das hatte mehrere Ursachen – unter anderem die Finanzierung. Aber auch hier gäbe es Möglichkeiten und wir stehen im engen Austausch mit der Abteilung Europa. Der zweite Grund lag im System Schule begründet, das meiner Meinung nach mehr einem Dienstleistungssektor gleichen und das in einem Netzwerk auf die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure bedacht sein sollte. Und da wollen wir auch wieder hin – dafür braucht es allerdings die Zusammenarbeit von drei weiteren Ressorts, und zwar die Bildungsressorts, die für den Pflegebereich mit den Fachschulen Hannah Arendt und E. Levinas verantwortlich sind, und das Gesundheitsressort, das für die Ausbildung der Krankenpflegerinnen und -pfleger zuständig ist – auch sie werden in den sozio-sanitären Diensten gebraucht. Hier sind wir wieder bei der Notwendigkeit, zusammen zu arbeiten.
 
Sehr komplex?
 
Wenn man will, ist alles lösbar.
 
Im Gegensatz dazu hat der Verband der Seniorenwohnheime Mitte Februar ein neues Ausbildungsmodell vorgestellt und quasi die Landesregierung zu einer Entscheidung genötigt. Was halten Sie vom Vorschlag des Verbandes?
 
Ich finde das Modell im Grunde genommen gut, es entspricht dem, was wir in der Verwaltung mit dem Bildungsbereich ohnehin bereits diskutieren – wenn man so will, enthält es auch nicht sehr viel Neues. Das einzige, was Probleme verursachen könnte, ist, dass die Bildungsbereiche diesen Weg mitgehen müssen. Diese liegen aber nicht in meinem Zuständigkeitsbereich. Mir ist wichtig, dass wir gemeinsam überzeugen und in diese Richtung gehen. Wenn die Bildung das mitträgt, sehr gerne. Ich verstehe, dass der Verband natürlich Lobby-Arbeit für die eigenen Heime macht – insofern auch gute Pressearbeit. Institutionen, die mitdenken und ihr praktisches Know-How mitbringen, sehe ich grundsätzlich positiv. Man muss sich die Vorschläge dann allerdings genauer ansehen. Entweder kommt man zum Ergebnis: ja, einige Ansätze sind sehr gut oder einige Vorschläge sind wiederum zu sehr Lobby gefärbt. Das erleben wir auch manchmal – nicht nur beim Verband der Seniorenwohnheime. Aber sinnvolle Vorschläge werden wir sicher versuchen umzusetzen.
 
Deshalb wird es auch keine Sonderschiene für den Deutschorden geben
 
Seit einiger Zeit gibt es Polemiken rund um das Heim St. Josef in Tisens und die angebliche Uneinsichtigkeit des Landes bzw. Ihres Ressorts.
 
In Tisens gibt es eigentlich nur ein offizielles Seniorenwohnheim, und zwar St. Michael. Es handelt sich dabei um ein akkreditiertes Heim mit über 40 Plätzen, das sich derzeit im Umbau befindet und dabei auch erweitert wird. Daneben gibt es in Tisens die Einrichtung St. Josef, die nie als definitives Heim gedacht war, sondern als Übergangseinrichtung. Sie wurde vor rund zwölf Jahren als Ausweichquartier eingerichtet, weil in Meran Seniorenwohnheimplätze gefehlt haben. Für Ausweicheinrichtungen gelten wiederum erleichterte Formen der Akkreditierung. Während sich also alle übrigen 78 Seniorenwohnheime an die bestehenden Kriterien halten müssen, ist in einer Übergangseinrichtung, die beispielsweise während eines Umbaus errichtet wird, keine Akkreditierung vorgesehen, sondern ein sogenanntes Ermächtigungsverfahren, das einer vereinfachten Form unterliegt. Das St. Josefsheim in Tisens ist an das St. Josefsheim in Meran gekoppelt – ein neues und modernes Seniorenwohnheim mit rund 150 Betten – und es war immer klar, dass bei Eröffnung des Meraner Heimes, die im September 2021 stattfand, die Übergangsstruktur in Tisens geschlossen werden müsste. Der Deutschorden, der nicht nur diese beiden Heime führt, sondern auch St. Anna in Lana – das nebenbei auf Entscheidung des Deutschordens geschlossen wurde und nun für Flüchtlinge bereit gestellt wird – wollte die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner ursprünglich von Tisens nach Meran verlegen. Wir waren damit einverstanden, weil aus unserer Sicht dieser Vorschlag Sinn machte. Dort können nämlich vor allem schwer pflegebedürftige Wachkoma-Patientinnen und -Patienten betreut werden. Der Deutschorden hat seine Meinung dann allerdings geändert: Nach der Schließung von St. Anna wollte die Führung St. Josef als Pflegeheim behalten und hat deshalb ein Ansuchen um eine definitive Akkreditierung gestellt. Wir haben nicht „Nein“ gesagt, sondern haben uns das Heim angesehen und ob es die Voraussetzungen dafür erfüllt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Evaluierung beauftragt waren, sind zum Schluss gekommen, dass eine Akkreditierung für 29 Heimbewohnerinnen und -bewohner genehmigt werden kann. Dazu ist zu sagen, dass es in Südtirol elf Seniorenwohnheime mit weniger als 30 Betten gibt – sie alle arbeiten wirtschaftlich. Deshalb sollte es auch kein Problem sein, ein Heim mit 29 Betten zu führen. Derzeit werden in St. Josef in Tisens 41 ältere Menschen betreut, weshalb wir vorgeschlagen haben, dass diese 41 Bewohnerinnen und Bewohner dort bleiben können – allerdings haben wir zur Bedingung gemacht, dass keine Neuaufnahmen vorgenommen werden, bis der Stand von 29 Heimbewohnern erreicht ist. Es war also vorgesehen, die Betten über die nächsten Jahre hinweg abzubauen. Kein Mensch muss übersiedelt werden, wenn er nicht will, und obwohl das Heim nicht den Kriterien entspricht, darf es sogar noch weitergeführt werden. Ich möchte betonen, dass die Akkreditierungs-Vorgaben sinnvoll sind und wir hier keine Ausnahmegenehmigung erteilen können. Sie werden auch keine einzige Feuerwehrhalle in ganz Südtirol finden, die nicht nach den geltenden Bestimmungen errichtet wurde. Es gibt Regeln, diese müssen für alle gelten und deshalb wird es auch keine Sonderschiene für den Deutschorden geben. Entweder gibt es bestimmte Kriterien, an die sich alle Pflegeeinrichtungen halten müssen, oder wir sagen, dass diese Regeln keinen Sinn machen. Dieser Meinung bin ich allerdings nicht, denn wir haben beispielsweise während der Corona-Pandemie die Erfahrung gemacht, dass es höchst notwendig ist, bestimmte Kriterien wie Sauerstoffanlagen einzuhalten. Wir haben zu viele alte Einrichtungen, die an solche und ähnliche Bestimmungen angepasst werden müssen.
 
Das Ressort Soziales kämpft jedes Jahr um mehr Geld im Haushalt – es ist ein regelrechtes „Gebettel“!
 
Wie viele Seniorenwohnheime in Südtirol müssten umgebaut werden, um den neuesten Standards zu entsprechen?
 
Das Ressort Soziales kämpft jedes Jahr um mehr Geld im Haushalt – es ist ein regelrechtes „Gebettel“! Während Bildung und Sanität immer mit genügend Mitteln ausgestattet werden, ist es im Sozialbereich ein regelrechter Kampf um die Ressourcen – das war unter Martha Stocker so, das ist unter meiner Leitung so und wird wahrscheinlich morgen auch noch so sein. Wir müssen immer um die Finanzierung einer wichtigen und sinnvollen Einrichtung betteln. Das ärgert mich bisweilen und das kann man auch am Zustand einiger Einrichtungen erkennen. Es gab erst kürzlich ein Treffen mit der Bezirksgemeinschaft Pustertal, bei dem es um den Zustand der Behinderten- und Seniorenwohnheime sowie der sozialen Einrichtungen ging: Es gibt in vielen Bereichen Nachholbedarf und dafür braucht es eben die finanziellen Mittel. Im Wipptal ist die Finanzierung für zwei Heime nach Jahren genehmigt worden – das Seniorenwohnheim „Schloss Moos“ hat bereits mit den Umbaumaßnahmen begonnen, die Finanzierung für den Neubau des Bezirksaltenheims Wipptal steht inzwischen. Nach 20 Jahren kann auch in Mühlbach endlich der Neubau für das Seniorenwohnheim in Angriff genommen werden. Das nächste Projekt der Gemeinden Brixen, Vahrn und Lüsen steht bereits an, auch das Heim „Guggenberg“ in Brixen soll saniert werden. Im Pustertal gibt es einige Heime, die umbauen möchten, wo aber das Geld fehlt und die Bürgermeister fordern, dass die Landesbeiträge erhöht werden müssen. Es gäbe viel zu tun, aber es liegt halt daran, dass die Beiträge seit rund 20 Jahren auf dem gleichen Stand sind und nie erhöht wurden, währenddessen die Kosten für die Baurichtlinien – wir müssen uns hier an die staatlichen Regelungen für die Sanitätsbauten halten – gestiegen sind. Diese machen ja auch Sinn wie die bereits angesprochenen Sauerstoffanlagen, die während der Pandemie sicher vielen Bewohnerinnen und Bewohnern das Leben gerettet haben. Jene Heime, die mit öffentlichen Geldern finanziert werden, sollten sich aber auch an die Regeln halten. Die Governance der öffentlich finanzierten Einrichtungen soll bitte schon noch in der öffentlichen Hand bleiben.

"Das Ressort Soziales kämpft jedes Jahr um mehr Geld im Haushalt – es ist ein regelrechtes „Gebettel“ - Solange die Agenden Soziales und Pensionisten/Senioren keinen wichtigeren Stellenwert bei den SVP-Arbeitnehmern und noch weniger in der Partei haben (siehe keine Spendengelder für deren Kandidaten), und sich in der Landesregierung in der Position der Bettler wiederfinden anstatt zu fordern, ist wahrscheinlich nicht viel zu erwarten. Kompatscher hat eine andere Klientel zu versorgen, die auch seinen Wahlkampf gesponsert haben.

Mi., 23.03.2022 - 16:13 Permalink

Die Alten können sich trösten, die meisten von uns werden alt werden (und das klingt heutzutage eher wie eine Drohung). Wer sich alt werden nicht leisten kann (Rente, Zusatzrente, Pensionsvorsorge, private Krankenversicherung), stirbt besser jung. So wie in Huxley's "Brave new world": Bis vierzig gut leben und dann tschüss.

Mi., 23.03.2022 - 21:20 Permalink